Motive und Metaphern im Psalm 23
Zusammenfassung
Naheliegend ist, dass sich die Beliebtheit des Psalms durch die einprägsamen Metaphern und die Poetik der Sprache ergibt. Der Hirte, der den Psalmisten zu den stillen Wassern führt, die Wanderung durch das Tal des Todesschattens, der bereitete Tisch angesichts der Feinde sind starke und teils sehr spannungsreiche Bilder, die die Fantasie der Rezipienten beflügeln und ein großes Identifikations-Potential beinhalten.
Die vorliegende Studie schlüsselt durch eine sozial-historische Auseinandersetzung mit den verwendeten Motiven und Metaphern auf, welche tieferen Bedeutungen hinter den Bildern stecken. Stellt der Psalm etwa wirklich nur ein Hirtenidyll dar, wie es oft angenommen wird? Oder verbergen sich weitere Schichten unter der ersten Bildebene?
In der Veröffentlichung geht es neben den verschiedenen Motiven auch um die literarische Integrität, den „Sitz im Leben“ und die Stellung innerhalb des Psalmkanons.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2.1. Stellung innerhalb des Psalmkanons
Der Psalm 23 steht im ersten der insgesamt fünf Bücher des Psalters. Er zählt wie alle Psalmen von 1 bis 41 zur Gruppe der Davids-Psalmen.[1] Die 150 Psalmen des gesamten Psalters sind nicht zufällig zusammengestellt worden, sondern unterliegen einer bewussten Gliederung, in die sich auch der Psalm 23 einfügt. Zu den psalterübergreifenden Redaktionsstrukturen gehört ein innerer und äußerer Rahmen: Den äußeren Rahmen bilden Ps 1 und 150: Das Tora-Studium (Ps 1) führt in den universalen Lobpreis (Ps 150). Der innere Rahmen besteht aus Ps 2 und Ps 149: Der Messiaserwartung (Ps 2) steht die Hoffnung der weltweiten Anerkennung des Messias und des messianischen Volkes (Ps 149) gegenüber.[2]
Darüber hinaus gibt es zwischen benachbarten Psalmen oft semantische, kompositionelle und/oder formgeschichtliche Zusammenhänge.[3] Beispielsweise sind Wechsel zwischen den verschiedenen Hauptgattungen kennzeichnend: zwischen individuellen oder kollektiven Klage- und Bittpsalmen und dem individuellen Danklied und dem kollektiven Gotteslob. Aus diesem Grund sollen im Folgenden die Korrespondenzen zwischen dem Ps 23 und den Psalmen 22 und 24 betrachtet werden.
Der Psalm 23 wird eingerahmt durch das Klagelied in Psalm 22 und den Adventspsalm 24. Im Klagelied des Ps 22 leidet der Beter unter großer Not und Gottesferne. Dies wird mit dem Stilmittel des Parallelismus Membrorum eindringlich beschrieben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) ruft der Betende, es ist der Klageschrei, der später im NT von Jesus am Kreuz gerufen wird. Es wird deutlich: Nicht nur die Beziehung zu Gott, sondern auch zu den Menschen und dadurch auch der Status als Mensch ist in Gefahr: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.“ (Ps 22,7) Wenn keine Hilfe naht, droht der Tod: „in den Staub des Todes legst du mich“ (Ps 22,16).
Nach Anrufen, Klagen und Bitten erfolgt im zweiten Teil unvermittelt ein Wendepunkt, der eine Erhörungsgewissheit und den Lobpreis Gottes beinhaltet. Trotz dieses Wendepunktes bleibt der Schrei nach Hilfe (vgl. Ps 22,2) im Psalm aber dominierend. Nach Klaus Westermann ist die eigentliche Funktion der Klage der Appell an Gott, das Blatt für den Notleidenden zu wenden.[4]
Im Psalm 23 wird nun dieser Wunsch nach einem fürsorglichen, rettenden Gott erfüllt. Wie ein Hirte kümmert sich Gott jetzt um den Gläubigen, auch in Zeiten von Bedrängnis und Not. Der Psalm 23 kann also als Antwort auf das Klagelied Psalm 22 verstanden werden, d.h. die beiden Psalme haben eine dialogische Beziehung. Nach Zenger ist der Psalm 23 das in Ps 22,23 angekündigte Lob des Namens JHWH, denn es erläutere wie und wo die Armen zum sättigenden Mahl kommen können. Durch die Einbindung von Ps 23 zwischen Ps 22 und 24 werde nach Zenger außerdem präzisiert, wer das betende Ich von Ps 23 sei, nämlich die Armen und Gerechten als Repräsentanten des wahren Israel.[5]
Der Beter findet im Psalm 23 schließlich Schutz im Hause des Herrn. Daran knüpft sich inhaltlich im Psalm 24 der Einzug in JHWHs Heiligtum an.[6]
2.2. Gliederung und Inhalt des Psalms
Als Grundlage für meine Bachelorarbeit lege ich die Elberfelder Bibel zugrunde. Sie ist nach Uwe Becker eine „auf Wortgenauigkeit achtende Übersetzung aus der Tradition der evangelischen Gemeinschaft“.[7] Die Übersetzung bemühe sich um eine „außerordentlich genaue (…) Wiedergabe“ des Urtextes, die „für Studienzwecke sehr gute Dienste leistet“.[8]
1a Ein Psalm. Von David.
1b Der HERR ist mein Hirte,
1c mir wird nichts mangeln.
2a Er lagert mich auf grünen Auen,
2b er führt mich zu stillen Wassern.
3a Er erquickt meine Seele.
3b Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit
3c um seines Namens willen.
4a Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens,
4b fürchte ich kein Unheil,
4c denn du bist bei mir;
4d dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich.
5a Du bereitest vor mir einen Tisch
5b angesichts meiner Feinde;
5c du hast mein Haupt mit Öl gesalbt,
5d mein Becher fließt über.
6a Nur Güte und Gnade werden mir folgen alle Tage meines Lebens;
und ich kehre zurück ins Haus des HERRN
lebenslang.
Der Psalm 23 ist gekennzeichnet durch den Wechsel mehrerer dialogischer Strukturen. Die Analyse der Sprechrichtungen ist nach Zenger eine Möglichkeit, den Psalm sinnvoll zu gliedern.[9] Nach dem Credo-Satz in Vers 1b „Der HERR ist mein Hirte“, der ein Glaubensbekenntnis und Zeugnis über JHWH darstellt, folgen wechselnde Sprechrichtungen, die spiegelbildlich aufeinander bezogen sind (Chiasmus). In Vers 1b-3 steht dem literarischen „ich“ ein „er“ gegenüber: „Er erquickt meine Seele“. Die Sprechrichtung geht vom „er“ zum „ich“. JHWH wird zunächst distanziert als „der Herr“ und „mein Hirte“ sowie stellvertretend mit dem Personalpronominum „er“ angesprochen.
In Vers 4, einem Vertrauensgebet, wechselt die Sprechrichtung zum persönlichen „ich-du“: „Du bist bei mir“. Der Psalm setzt sich in Vers 5 spiegelbildlich im „du-mir/ich“-Dialog fort: „Du bereitest vor mir einen Tisch“. Inhaltlich lässt sich Vers 5 auch als Vertrauensgebet kennzeichnen.
Im abschließenden JHWH-Bekenntnis (V. 6) steht dem „ich“ des Psalmisten wieder wie zu Beginn in V.1b-3 distanziert ein „er“ gegenüber. Die Sprechrichtung ist allerdings im Vergleich zum Anfang spiegelbildlich: „ich - Haus des Herrn/er“ „und ich kehre zurück ins Haus des HERRN lebenslang“. Durch den zweimal verwendeten Gottesnamen zu Beginn und zum Ende des Psalms wird der Psalm gleichsam eingerahmt.
Ausgehend von dieser Analyse der Sprechrichtungen, lässt sich der Psalm in Anlehnung an Zenger in vier Teile gliedern:
Teil 1: Verse 1b-3 - Bekenntnis/Zeugnis über JHWH (er-ich)
Teil 2: Vers 4 - Vertrauensgebet zu JHWH (ich-du)
Teil 3: Vers 5 - Vertrauensgebet zu JHWH (du-ich)
Teil 4: Vers 6 - Bekenntnis/Zeugnis über JHWH (ich-er)
Auch inhaltlich ist diese Gliederung sinnvoll, denn die Teile 1 und 4 bilden wie bereits erwähnt den Psalm-Rahmen, in dem das immerwährende Vertrauen eines Menschen auf JHWH zum Ausdruck kommt. Deutlich wird dies durch den Credo-Satz am Psalmanfang sowie durch die Motive des Ruhens/Lagerns auf den grünen Auen und an den stillen Wasser (V.2) sowie schließlich durch das lebenslange Wohnen im Haus des Herrn (V.6).
Im zweiten und dritten Teil wird das Gottesverhältnis und damit auch das Bekenntnis zu JHWH durch die Schilderung hypothetischer personaler Bedrohungen zweimal auf die Probe gestellt. Die Wanderung des Psalmisten durch das „Tal des Todesschattens“ in Vers 4 kann als erste, die Anwesenheit von „Feinden“ in Vers 5 in der Nähe des gedeckten Tisches als zweite Bewährungsprobe des Gottesvertrauens verstanden werden. Diese Elemente einer sich steigernden Spannungsdramaturgie werden nur durch die unerschütterliche Gotteszuversicht aufgelöst. So heißt es in Vers 4: „Fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir“. Gott als Hirte wird seine „Waffen“, seinen Stecken und Stab, zum Wohle des gefährdeten Menschen einsetzen.
In Vers 5 steigert sich der „Lohn“ des auf JHWH Vertrauenden noch, denn er wird nicht nur von den Feinden verschont, sondern auch durch höchste Zuwendungen von Gott ausgezeichnet. „Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über“. Teil 2 und 3 sind sich – von dieser Steigerung abgesehen - recht ähnlich. Beide Teile stellen einen - wenn auch hypothetischen - Anwendungsfall des Gottesvertrauens dar, indem der Glaubende schließlich für seine Zuversicht belohnt wird. Sie haben damit die Funktion, die Bedeutung des Gottesvertrauens zu unterstreichen.
Eine stichprobenartige Analyse weiterer Psalmkommentare zeigt, dass andere Theologen andere Gliederungen gewählt haben. De Wette favorisiert beispielsweise eine Dreiteilung des Psalms[10]:
Teil 1: Verse 1b-4
Teil 2: Vers 5
Teil 3: Vers 6
Diese Gliederung mit der Ausdehnung des ersten Teils hat den positiven Effekt, dass das im ersten Psalmteil existierende Hirtenmotiv nicht auseinander gerissen wird. Allerdings wird dadurch dem auffälligen Personenwechsel – vom er/ich zum ich/du – keinerlei Rechnung getragen. Aus diesem Grund halte ich diese Gliederungsmöglichkeit für weniger aussagekräftig.
2.3. Literarische Integrität, Gattung und Sitz im Leben
Literarische Integrität
Die Literarkritik basiert auf der Erkenntnis, dass die alttestamentlichen Schriften in der Regel nicht von einem einzigen Autor stammen, sondern ihre aktuelle Gestalt einer vielschichtigen Entstehungsgeschichte verdanken.[11] Diese komplizierte Entstehungsgeschichte spiegelt sich oft auch in den Texten wieder. Die Aufgabe der Literarkritik ist es daher, den Text auf seine literarische Einheitlichkeit hin zu befragen. Konkret bedeutet dies, dass die Kommunikationsebenen des Textes auf enthaltene Sprachsignale (z.B. Demonstrativpronomina oder Einführungen wörtlicher Reden) betrachtet werden müssen.[12]
Im Psalm 23 könnte der unter Gliederungspunkt 2.2. (Gliederung und Inhalt des Psalms) beschriebene Wechsel der Personalpronomina als ein solches Sprachsignal gedeutet werden. Die Betrachtung zeigt: Zunächst wird in den Versen 1-3 über Gott ausschließlich in der dritten Person gesprochen: er lagert/führt/erquickt/leitet. Subjekt des Satzes, d.h. der Handelnde ist also „er“. Der Vers 6 fügt sich über das „Haus des Herrn“ in diese Anredeform der dritten Person mit ein.
Die Verse 4 und 5 fallen in doppelter Hinsicht aus diesem „Rahmen der dritten Person“: Erstens spricht der Psalmist Gott nun direkt mit dem Personalpronomen du an: du bist bei mir/ bereitest und salbst. Außerdem rückt er durch die Verwendung des Personalpronomens ich seine eigene Person mehr in den Fokus (z.B. Auch wenn ich wandere).
Aus dieser Beobachtung könnte abgeleitet werden, dass die Verse 4 und 5 erst nachträglich eingefügt wurden. Eine Begründung für diese Hypothese ist auch, dass die Verse 1-3 und 6 für sich genommen stehen könnten, denn sie ergeben auch alleine einen Sinn.
Als Gegenargument wäre anzuführen, dass das Hirtenmotiv nicht mit dem Vers 3 beendet ist, sondern sich auch noch im Vers 4 („dein Stecken und Stab“) fortsetzt. Durch die Beschreibung des aktiven Wanderns des Psalmisten wird die Funktion des Hirten allerdings im Vers 4 mehr in den Hintergrund gerückt, denn Subjekt des Satzes ist nun das „ ich “. Auch diese Variation könnte ein Indiz für eine spätere Einfügung sein.
Anhand dieser Überlegungen muss die Einschätzung Spieckermanns nicht geteilt werden, der unter Einbeziehung einer metrischen Analyse von Mittmann zum Ergebnis kommt, „dass auf literarkritischem Wege keine tragfähigen Erkenntnisse über Ps 23 zu gewinnen sind, weshalb sein jetziger Zustand zugleich als seine ursprünglich konzipierte literarische Gestalt zu betrachten ist.“[13]
Gattung
Nach Westermann lässt sich der Psalm 23 nicht den bekannten Psalmgattungen zuordnen. Kennzeichnend ist, dass in ihm ein Motiv der Klage des Einzelnen, das Vertrauensbekenntnis, zu einem ganzen Psalm ausgeweitet wurde.[14] Zu den drei Strukturelementen der Klage eines Einzelnen gehören: 1. die Anrufung Gottes, 2. die Schilderung existentieller Not und 3. die Bitte um ein Eingreifen Gottes.[15] Die Schilderung der Not kann um ein Vertrauensbekenntnis erweitert sein (vgl. Ps 13,6), dieses Element kann sich – wie in Psalm 23 geschehen – zu einem selbständigen Vertrauenslied entfalten.
Zu diesem Motiv des Vertrauensbekenntnisses gehören alle sechs Verse.
Zum Vertrauen auf Versorgtsein (V.1 und 2) kommt das Vertrauen auf Führung (V. 3b). Es schließt sich das Vertrauen auf Schutz (V. 4c-d) auch angesichts von Feinden (V. 5b) an und mündet in das Vertrauen auf eine lebenslange Verbundenheit mit Gott (V. 6).
Dieser Einordnung des Psalms als Vertrauenslied schließen sich auch andere Kommentatoren wie beispielsweise Kraus an.[16] Gerstenberger stellt fest: „Every reader of Psalm 23 will agree that the motif of trust is predominant in the psalm.“[17] Zenger argumentiert, dass das als Nominalsatz gestaltete Eingangsbekenntnis neben dem „den ganzen Psalm durchziehenden Ausdruck der Geborgenheit des Beters in der ihm von JHWH geschenkten Lebensgemeinschaft“ eine Verwendung als Vertrauensgebet nahe legen.[18]
Auch Spieckermann stuft den Psalm als individuelles Vertrauenslied der Spätzeit ein.[19] Die Sprache sei „ausschließlich affirmativ und deskriptiv, nicht – wie beim Loblied zu erwarten – adhortativ, appellativ und narrativ (…) und zudem ganz ohne Rettungs-, Dank- und Lobvokabular“[20].
Sitz im Leben
Nach Baldermann sind die ursprünglichen Einheiten der Psalmen als Gebrauchstexte festgehalten worden: „Viele haben sich in ihnen wiederfinden können, viele haben durch sie eine Möglichkeit gewonnen, der lähmenden Sprachlosigkeit zu entgehen. Später sind sie dann zu den komplexen Einheiten zusammengewachsen, die uns jetzt in den Psalmen vorliegen.“[21]
Nach Gerstenberger schließt der „extremely personal tone“ im Psalm einen Sitz im Leben im Kontext von König oder Nation aus.[22] Er geht von einer eher individuellen und familiären Verwendung des Psalms aus: „Taking seriously the confessional attitude of vv. 1-3,6, and the prayer stance of vv.4-5, we may think of a worship service for an individual person held within the small circle of family or clan.”[23]
Seybold geht hingegen davon aus, dass der Psalm beim Dankopfermahl seinen Ort hat, denn nach seiner Einschätzung erinnern das Vertrauensmotiv des Hirten, die belehrende Ausrichtung, die Gebetsanrede (V. 4b-5), das Gelübde (V. 6) und der Hinweis auf die Situation einer Mahlfeier am Hause JHWHs (V. 5f.) an die Formelemente des im Tempel vorgetragenen Dankpsalms.[24] Auch Kraus sieht das Gastgebermotiv im Kontext eines Dankopferfestmahles.[25]
2.4. Verfasser, Datierung und Entstehungsort
David wird im Psalter als Verfasser von 23 Psalmen aufgeführt. Die Bezeichnung „für/von/dem David“, die diesen entsprechenden Psalmen vorangestellt ist, ist allerdings nicht in einem auktorialen Sinn („von David“), sondern in einem possessiven Sinn („für David“ bzw. „dem davidischen Psalmbuch angehörend“) zu verstehen.[26] Auch der Psalm 23 wurde also nicht von David verfasst, sondern ihm gewidmet.
In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass wir es in den Psalmen grundsätzlich nicht mit den Produktionen eines Autors zu tun haben, da sie ihre Form erst im Gebrauch und in der Weitergabe von Generation zu Generation gefunden haben.[27]
Warum wurden David so viele Psalme gewidmet? Nach Zenger sollte David als Identifikationsfigur für den einzelnen Beter vorgestellt werden, da er zum einen als besonders frommer König galt. Die Vorstellung von David als Psalmdichter basiert auch auf seiner Rolle als Lautenspieler am Hofe Sauls (1Sam 16,16ff.) sowie auf seiner Charakterisierung als Dichter von Totenklagen (2Sam 1,17ff.).[28]
Dass David im Psalm 23 als Autor in Frage kommt, ist deswegen ausgeschlossen, weil der Psalm bereits den Tempel voraussetzt (V.6), den erst Davids Sohn Salomon erbaut hat.
Wie bei den meisten Psalmen ist auch beim Psalm 23 der Entstehungsort und der Zeitpunkt der Entstehung unklar. Aktuelle Bezüge, die eine Einordnung erleichtern würden, fehlen. Ein Großteil der Psalmen wurde in nachexilischer Zeit verfasst, einige Königspsalme reichen aber auch bis in die Zeit des 10. vorchristlichen Jahrhunderts zurück. Da im Psalm 23 der Tempel eine zentrale Rolle spielt, könnte Jerusalem als Entstehungsort in Frage kommen. So sieht auch Kraus, der als Entstehungszeit die vorexilische Zeit annimmt, den Psalm in der Tradition Jerusalem.[29]
3. Stilelemente im Psalm 23
Wie der Psalter insgesamt ist auch der Psalm 23 in einer poetischen Sprache verfasst. Sie erzielt ihre Wirkung durch die Verwendung bestimmter Stilmittel. Im Hebräischen ist der Parallelismus membrorum ein zentrales Gestaltungsmittel der Sprache. Der Parallelismus membrorum beruht darauf, dass ein Sachverhalt durch zwei oder drei parallele Sachverhalte beschrieben wird. Dieses Phänomen, das auch mit dem Begriff der Stereometrie beschrieben wird, führt zu einer Multiperspektivität, es entsteht nach Janowski eine „produktive Unschärfe und Plastizität der Aussage“[30].
„Dem Parallelismus membrorum liegt die Idee der ´symmetrischen Vollständigkeit` zugrunde, d.h. die Idee, dass das Ganze immer aus der Vielheit seiner Teile besteht und durch In-Beziehung-Setzung seiner komplementären oder polaren Einzelelemente dargestellt wird (…).“[31]
Als ein Beispiel für das Prinzip der Stereometrie, bzw. des Parallelismus membrorum führt Janowski die variierte Aussage in Ps 63,4 an:
Gott, mein Gott bist du, ich suche dich, gedürstet hat nach dir mein Leben, geschmachtet hat nach dir mein Leib
Hier wird deutlich: Erst durch das Zusammenwachsen unterschiedlicher Aspekte gewinnt das Gesagte an Konkretion. Konkretion aber ist das Lebenselement der Psalmensprache, und das ihr entsprechende Formprinzip ist der Parallelismus.“[32]
Stereometrie bedeutet nach Janowski eine Überlagerung von Bildern und Motiven.[33] Dadurch werde nicht nur die Konkretion der Einzelaussage gesteigert, sondern auch ihre Multiperspektivität bewirkt. Daraus resultiere, dass die betreffenden Texte in ihrer Bedeutung aufeinander hin durchsichtig werden und gegenseitig ihren Sinn erschließen. Die Vershälften interpretieren sich wechselseitig.
Zu den unterschiedlichen Varianten dieses Stilmittels zählen der Synthetische sowie der Synonyme Parallismus membrorum. Bei dem Synthetischen Parallelismus membrorum wird die Aussage (z.B. ein Bild oder ein Nebengedanke) der ersten Zeile durch eine ähnliche oder erweiterte Variation ergänzt.[34] Bei dem Synonymen Parallelismus membrorum ist der Gedankenfortschritt des Textes verzögert, die Aussage wird weiter ausgestaltet und veranschaulicht, aber eher horizontal ergänzt.[35]
Beispielhaft soll nun gezeigt werden, wo und in welchen Varianten im Psalm 23 das Stilmittel des Parallelismus membrorum Verwendung findet:
Gleich im ersten Vers ist ein Beispiel für eine Verwendung des Synthetischen Parallelismus membrorum: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ (Ps 23,1) Mit dem Zusatz „mir wird nichts mangeln“ wird das eingeführte Hirtenbild ergänzt, konkretisiert und dadurch positiv gewertet. Rein theoretisch könnte der Hirte auch unzuverlässig bei seiner Arbeit sein, aber es ist ein guter Hirte, denn der von ihm Gehütete erfährt keinen Mangel.
Ein ähnliches Beispiel findet sich im Vers 4: „Fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir“ (Ps 23,4) Auch hier wird ein eingeführter Sachverhalt weiter fortgeführt. In diesem Fall begründet der zweite Satzteil, worauf das Vertrauen des Beters beruht.
Im Vers 2 „Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern.“ (Ps 23,2) zeigt sich eine andere Situation. Hier ist der Gedankenfortschritt verzögert. Der Sachverhalt wird lediglich durch Parallelaussagen variiert und erläutert. Inhaltlich geht es in beiden Fällen um das Versorgtwerden mit existentiellen Lebensgütern. Der Vers fällt daher in die Kategorie des Synonymen Parallelismus membrorum.
Ein weiteres Beispiel für den Synonymen Parallelismus membrorum findet sich auch im Vers 5c-d: „Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über“. Hier werden zwei ähnliche Situationen geschildert, die beide die reichen Gaben Gottes zum Ausdruck bringen.
In der anschließenden Analyse der Motive und Metaphern soll gezeigt werden, wie im Psalm 23 durch eine Überlagerung der Bilder eine stärkere Plastizität der Gesamtaussage erreicht wird.
4. Motive und Metaphern im Psalm 23
Das Wort Metapher leitet sich von dem griechischen Begriff metaphorá ab und bedeutet Übertragung. Metaphern sind nach Gero von Wilpert rhetorische Figuren, die bildliche Ausdrücke für Gegenstände oder Eigenschaften beinhalten. Zentraler Punkt ist dabei, „dass Wort(gruppen) aus dem eigentlichen Bedeutungszusammenhang auf einen anderen, im entscheidenden Punkt vergleichbaren, doch ursprünglich fremden Vorstellungsbereich übertragen werden, ohne formale Ausführung des Vergleichs im Nebeneinander der Werte (so-wie)“[36]
Die inhaltliche Bedeutung des Textes kann durch Metaphern stark verändert werden. Metaphern können einerseits als bloßes, „äußeres Schmuckmittel“ zum Einsatz kommen oder „über geistreich bebildertes Sprechen und spannungsvolle Widersprüche bis zur tiefen Durchdringung des Bildes, das nicht mehr intellektueller Vergleich, Stellvertretung der Werte, sondern letzte Wesenserfassung der Dinge ist, eine neue, bildhafte und unmittelbar sinnlich erfahrbare Vorstellungsebene schaffen.“[37]
Unter der Begrifflichkeit „Motive“ wird die strukturelle inhaltliche Einheit, die allgemeine thematische Vorstellungen umfasst und Ansatzpunkt menschlicher Erlebnis- und Erfahrungsgehalte in symbolischer Form bilden kann, verstanden. Motive können sich sowohl auf Situationen (z.B. Heimkehrer) als auch auf Charaktere (z.B. Menschenfeind), aber auch auf Raum (z.B. Wald) und Zeit (z.B. Nacht) beziehen.[38]
In der Theologie haben Metaphern eine besondere Funktion. Nach Halbfas müssten alle Religionen der Welt ohne diese rhetorischen Figuren verstummen, denn von Gott lasse sich nur sinnvoll metaphorisch reden, die Metapher bewahre die Menschen vor Sprachlosigkeit. Die namenlose Verborgenheit des „Weltgrundes“ lasse sich ohne Bilder nicht thematisieren.[39] Der islamische Mystiker Maulana Dschelaleddin Rumi (gest. 1273) beschrieb mit treffenden Metaphern die Aufgabe, die diese Umschreibungen leisten können: Metaphern seien Maßbecher, die das Korn „Sinn“ fassen können oder Leuchtturmlichter, die man braucht, solange der Hafen noch nicht erreicht ist.[40]
Ziel der vorliegenden Arbeit soll es sein, diese „neue, bildhafte und unmittelbar sinnlich erfahrbare Vorstellungsebene“ im Psalm 23 durch eine Aufschlüsselung der verwendeten Metaphern und Motive zu durchdringen.
Nach der eingangs vorgenommenen Metaphern-Begriffsklärung sollen daher alle Formulierungen, die mehr als nur ihre wörtliche Bedeutung in sich tragen, zunächst gesammelt und in einem zweiten Schritt thematisch sortiert werden. Als Metaphern wurden so in chronologischer Reihenfolge erfasst (und behutsam sprachlich angepasst):
- Hirte
- Lagerung auf grünen Auen
- Führung zu stillen Wassern
- Erquickung der Seele
- Leiten in Pfaden der Gerechtigkeit
- Wanderung im Tal des Todesschattens
- dein Stecken und dein Stab
- bereiteter Tisch angesichts meiner Feinde
- mit Öl gesalbtes Haupt
- überfließender Becher
- Rückkehr ins Haus des Herrn.
Die Auflistung macht deutlich, dass zwei Bildwelten bzw. Motive den Psalm prägen.[41] Neben dem Hirtenbild (Verse 1 – 4) findet sich auch das Gastgeber-Motiv (Verse 4 - 6), das bereits jetzt wegen der späteren Interpretation unter dem Doppelnamen Gastgeber/Wallfahrtsmotiv aufgeführt werden soll. In der folgenden Tabelle werden beide Motive[42] mit den dazugehörigen Metaphern aufgelistet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Tabelle macht deutlich, dass das Hirtenmotiv mehr Metaphern enthält als das Gastgeber-/Wallfahrtsmotiv. Allerdings könnte die "Wanderung im Tal des Todesschattens" auch zusätzlich dem Wallfahrtsmotiv zugeordnet werden, denn auch der Wallfahrer ist wandernd unterwegs und dabei Gefahren ausgesetzt (vgl. Kapitel 16.1.). Außerdem wird der Hirte als Motiv/Metapher direkt genannt, während die Bezeichnung Gottes als Gastgeber im Psalm nur durch Metaphern indirekt durch die Tätigkeiten des Gastgebers angedeutet wird. Gott als Gastgeber kann daher nicht als eigene Metapher aufgeführt werden.
Da der Psalm 23 fast nur aus Metaphern besteht, sollten auch die wenigen Nicht-Metaphern Beachtung finden, denn sie können als direkte, nicht verschlüsselte Sprache des Psalmisten verstanden werden. Metaphernbereinigt bleiben folgende Halbverse übrig:
- mir wird nichts mangeln (V. 1b)
- fürchte ich kein Unheil,(V. 4b)
- denn du bist bei mir (V. 4c)
- nur Güte und Gnade werden mir folgen alle Tage meines Lebens (6a)
In dieser komprimierten Form zusammengefasst, machen sie noch einmal den starken Vertrauenscharakter des Psalms deutlich. JHWH ist ein Gott, der da ist, nach Kraus ist dies der eigentliche „Kernsatz des Vertrauens“.[43]
[...]
[1] Zur Verfasserfrage des Ps 23: siehe Kapitel 1.3.
[2] Vgl. Erich Zenger, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 82012, 417.
[3] Vgl. ebd.
[4] Vgl. Claus Westermann, Forschungen zum Alten Testament II, München 1974, 261.
[5] Vgl. Erich Zenger, Psalm 23, Bleibende Lebensgemeinschaft mit JHWH, in: F.-L. Hossfeld, Ders., Die Psalmen, Psalm 1-50, Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum Alten Testament, Würzburg 1993, 152.
[6] Vgl. ebd. 153.
[7] Uwe Becker, Exegese des Alten Testaments, Tübingen 32011, 163.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Zenger, Psalm 23, 152.
[10] Vgl. Hermann Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen 1989, 265.
[11] Vgl. Uwe Becker, Exegese des Alten Testaments, Tübingen 32011, 41.
[12] Vgl. Becker, Exegese, 48.
[13] Spieckermann, Heilsgegenwart, 266.
[14] Vgl. Claus Westermann, Ausgewählte Psalmen. Übersetzt und erklärt von Claus Westermann, Göttingen 1984, 95.
[15] Vgl. Erich Zenger, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 82012, 423.
[16] Vgl. Kraus, Hans-Joachim, Psalmen. 1.Teilband Psalmen 1-59, in: Siegfried Herrmann u.a. (Hgg.), BIK (AT), Band XV/1, Neukirchen-Vluyn 51978, 340.
[17] Erhard S. Gerstenberger, psalms, part 1, Michigan 1991, 115.
[18] Zenger, Psalm 23, 152.
[19] Vgl. Spieckermann, Heilsgegenwart, 268.
[20] Ebd. 264.
[21] Ingo Baldermann, Ich werde nicht sterben sondern leben. Psalmen als Gebrauchstexte, (WdL 7), Neukirchen-Vluyn 1990, 37.
[22] Gerstenberger, psalms, part 1, 115.
[23] Vgl. Ebd.
[24] Seybold, Klaus, Die Psalmen (HAT 1/15), Tübingen 1996, 101.
[25] Vgl. Kraus, Psalmen, 336.
[26] Vgl. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, 419.
[27] Vgl. Baldermann, Ich werde nicht sterben sondern leben, 37.
[28] Vgl. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, 419.
[29] Vgl. Kraus, Psalmen, 337.
[30] Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, 18.
[31] Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 13f..
[32] Baldermann, Ich werde nicht sterben sondern leben, 61.
[33] Vgl. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 35.
[34] Vgl. Lukas Bormann, Bibelkunde, Altes und Neues Testament, Göttingen 42012, 116.
[35] Vgl. ebd.
[36] Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 71989, 568.
[37] Ebd. 569.
[38] Ebd. 591.
[39] Vgl. Hubertus Halbfas, Religiöse Sprachlehre, Theorie und Praxis, Ostfildern 2012, 78.
[40] Vgl. ebd. 79.
[41] Vgl. Kraus, Psalmen. 336.
[42] In anderen Auslegungen wird auch noch als drittes Motiv das Bild des Wegbegleiters thematisiert (V. 4). Vgl. Zenger, Mit meinem Gott überspringe ich Mauern, 227. Nach meiner Einschätzung ist dieses Bild aber im Motiv des Hirten enthalten.
[43] Vgl. Kraus, Psalmen, 339.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783958206267
- ISBN (Paperback)
- 9783958201262
- Dateigröße
- 978 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 3
- Schlagworte
- Psalter Hirtenmotiv Wallfahrtspsalm guter Hirte Altes Testament