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Sexualpädagogik goes Web 2.0: Sexualpädagogik im Umgang mit sozial-online-vernetzten Jugendlichen

©2013 Bachelorarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Nach den Empfehlungen der International Planned Parenthood Federation sollte eine zeitgemäße Sexualpädagogik stets darum bemüht sein, im Rahmen sexueller Aufklärung und Bildung möglichst alle maßgeblichen Lebensräume von Jugendlichen einzubeziehen. In den letzten Jahren ist durch die Sozialen Online-Netzwerke ein neues, virtuelles Terrain entstanden, das besonders unter Jugendlichen immer mehr in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit gerückt und mittlerweile ein integraler Bestandteil ihrer Lebenswelten geworden ist. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Jugendliche das Internet als interaktives Web 2.0 nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Produzenten zur Selbstpräsentation verwenden, die einen essenziellen Bestandteil ihrer individuellen Identitätsentwicklung ausmacht. Diese Entwicklung stellt die gegenwärtige Sexualpädagogik konsequenterweise vor die Aufgabe, Jugendliche auch im Kontext von Sozialen Online-Netzwerken in ihrer sexuellen Identitätsentwicklung zu unterstützen.
Diese Arbeit möchte zunächst ein differenziertes Verständnis für die Bedeutung von Sozialen Online-Netzwerken auf dem Gebiet jugendlicher Sexualentwicklung vermitteln. Darauf aufbauend wird skizziert, wie eine zeitgemäße Sexualpädagogik aussehen kann, die Soziale Online-Netzwerke nicht nur als einen weiteren Kommunikationskanal zur Information und Beratung Jugendlicher nutzt, sondern darüber hinaus vor allem auch Jugendliche in ihrem sexuellen Sozialisationsprozess im Web 2.0 exemplarisch beratend begleitet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2 Jugend und Sexualität

2.1 Lebenswelten Jugendlicher

Der Begriff der Lebenswelt geht zurück auf Edmund Husserl und wurde von Alfred Schütz weiterentwickelt. Schütz definiert die Lebenswelt als die Wirklichkeit, in der ein Mensch lebt und kontinuierlich teilnimmt. Außerdem wird sie nicht in Frage gestellt.

„Die Lebenswelt ist der Inbegriff einer Wirklichkeit, die erlebt, erfahren und erlitten wird“ (Schütz/Luckmann 1984, S. 11).

Jürgen Habermas fügt der Definition der Lebenswelt außerdem noch die soziale Integration hinzu. Innerhalb der Lebenswelt unterscheidet er drei Komponenten. Zum Ersten enthält die Lebenswelt Wert- und Deutungsmuster. Sie schafft eine Grundlage für erste Erfahrungswerte und hilft dadurch, dem Alltag gewachsen sein. Zum Zweiten umfasst sie alle gebilligten Normen, die soziale Ordnungen und Beziehungen regeln. Zum Dritten ist in ihr der gesamte biografische Background enthalten, auf dem alle Sozialisationsprozesse zu bewältigen sind.

Hans Thiersch und Klaus Grunwald erweitern Habermas' Modell. Der Begriff der Lebenswelt ist ursprünglich eine beschreibende, phänomenologische Bezeichnung. Aufgabe jedes Einzelnen sei es, alle Aufgaben in der jeweiligen Lebenswelt lösen zu können. Allerdings bestimmt der Mensch selbst, was hinterfragt wird und was nicht. Des Weiteren wird die Lebenswelt untergliedert in Lebensräume und Lebensfelder, wie z. B. Eltern, Familie, Peergroup, Schule, Arbeit und Internet (Grunwald & Thiersch 2008).

Anne Honer geht noch einen Schritt weiter und definiert die Lebenswelten in „kleine soziale Lebenswelten“. Gemeint sind „strukturierte Fragmente der Lebenswelt“.

„Eine kleine soziale Lebens-Welt ist das Korrelat des subjektiven Erlebens der Wirklichkeit einer Teil- bzw. Teilzeit-Kultur“ (Honer 2011, S. 23).

Fokussiert man nun den Blick auf Jugendliche und deren Alltag, wirkt es zunächst unproblematisch, ein Nebeneinander verschiedener kleiner Lebenswelten anzunehmen. Jugendliche halten sich viel in der Schule auf, in der Klasse, auf Pausenhöfen, auf denen die Jugendlichen den Kontakt zu Freunden suchen, also kurzzeitig in jeweils andere kleine Lebenswelten eintauchen. Genauso wichtig sind die kleinen Lebenswelten Jugendlicher in der Familie, in der eigenen oder in der der Freunde, insbesondere bei außerschulischen Aktivitäten in den Peergroups und in der Welt des Internets sowie bei Computerspielen. Nicht immer lassen sich diese Lebenswelten jedoch genau voneinander abgrenzen. Dennoch verfügen Jugendliche über ein klares Bewusstsein, in welcher kleinen sozialen Lebenswelt sie sich gerade bewegen und welche Regeln dort gelten.

Einen noch differenzierteren Blick auf die Lebenswelten Jugendlicher verschafft die aktuelle SINUS-Studie u18 von 2012. Sie kategorisiert diese in soziokulturell sehr heterogene Felder, wie z. B. sozialökologische, expeditive, konservativ-bürgerliche, adaptiv-pragmatische, materialistisch-hedonistische, experimentalistisch-hedonistische und prekäre Parteien (vgl. Calmbach/Borchard/Flaig 2011).

2.1.1 Eltern und Familie

Eine der wichtigsten Bezugsgruppen Jugendlicher ist unter gewöhnlichen Voraussetzungen die eigene Familie bzw. die Herkunftsfamilie. Sie ist für die meisten Jugendlichen unentbehrlich, stellt sie doch immerhin das soziale und emotionale „Trainingslager“ dar, um sich zu behaupten und nicht leicht zu erlangende soziale Kompetenzen einzuüben, die die Jugendlichen für die Lebensbewältigung und die Beziehungsarbeit benötigen. Das bedeutet:

„Familie bietet nicht nur emotionalen Schutz, sondern auch wichtige Lernmöglichkeiten. Gleichzeitig schafft sie einen Raum, in dem die Individuation des Menschen vorausschreitet, in dem die Balance und Verbundenheit eingeübt werden kann.“ (Fend 2000, S. 303).

Allerdings ist zu bedenken, dass es ein Pendeln zwischen enger Verbundenheit mit emotionalem Anlehnungsbedürfnis einerseits und Abgrenzung mit selbstgesteuerter Selbstständigkeit und demonstrativer Distanzierung auf beiden Seiten andererseits gibt, das nicht immer einfach zu bewerkstelligen ist, da sich Eltern von ihren Kindern oft psychisch verletzt fühlen (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 156).

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Familie mit ihren Bezugspersonen eine der durchgängig wichtigsten Lebenswelten für Jugendliche ist. Wenn Familienstrukturen vorliegen, in denen die Eltern geschieden sind oder beide Elternteile ganztags arbeiten gehen, sind Jugendliche jedoch stark auf sich allein gestellt. Gerade dann treten Gleichaltrige in emotionale Konkurrenz zu den Eltern.

„Kontakte werden von Jugendlichen zu den Eltern auch oft demonstrativ gegen die Eltern ausgespielt. Damit signalisieren sie, dass sie ihre soziale und emotionale Bezugsgruppe wechseln wollen“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 156).

Fänden Eltern zu ihren Kindern die Balance zwischen fördernder Kontrolle und Ermunterung zu Selbstständigkeitsbestrebungen, profitierten sie von der Ablösungsphase ihrer Kinder, was ihnen ermöglichte, neue Einblicke in die andersartigen Lebenswelten von Jugendlichen zu gewinnen.

Auch in Bezug auf Sexualität ist die wichtigste Bezugsgruppe anfänglich in erster Linie die Familie.

„Die Familie fungiert bei uns auch bezüglich der sexuellen Handlungskompetenz als die primäre Sozialisationsinstanz. Sie erbringt für das Kind eine tatsächliche natur-, da überlebensnotwendige Leistung“ (Lautmann 2002, S. 314).

Folglich kann ihr Einfluss auf die sexuelle Sozialisation nicht hoch genug eingeschätzt werden.

2.1.2 Peergroup

Ähnlich wie die Lebenswelt Familie stellt die die Lebenswelt Peergroup in vielerlei Hinsicht ein Trainingslager dar.

„Gleichaltrigengruppen fördern die Entwicklung von Enttäuschungsfestigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Widerstandspotentiale in zwischenmenschlichen Interaktionen“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 176).

Gerade in der Phase der psychischen und sozialen Ablösung von den Eltern suchen die Jugendlichen immer stärkeren Kontakt zur gleichaltrigen Generation. Dort entwickeln sich vertrauensvolle Kontakte, und Jugendliche erforschen neue Verhaltensmöglichkeiten. Vor allem dann, wenn Jugendliche sich von ihren Eltern missverstanden und nicht akzeptiert fühlen, suchen sie Schutz und Anerkennung bei Gleichaltrigen. Damit verbunden ist oft eine

„offene oder versteckte Verweigerungshaltung gegenüber der Eltern- und Erwachsenenwelt. Die Ursache liegt meist in einem gestörten Verhältnis zu den Eltern. Ein Indikator hierfür ist die Aussage, nicht mit Mutter und Vater reden zu können, weil die Auffassungen und Einstellungen zu weit auseinander liegen“ (Hurrelmann 2007, S. 131).

Fend bemerkt hierzu allerdings:

„Wenn die Beziehung zu den Eltern belastet ist, jene zu den Freunden aber positiv erlebt wird, dann sind die negativen Wirkungen von Elternproblemen deutlich reduziert“ (Fend 2000, S. 327).

Die Shell-Jugendstudie 2002 besagt, dass 68 % der befragten Jugendlichen einer Clique angehören. 57 % der Jungen und 67 % der Mädchen geben als wichtigste Freizeitbeschäftigung das Treffen mit Freunden an (Albert et al. 2002, S. 78ff). Demnach legen die Jugendlichen außerordentlichen Wert auf die Beziehungen zu ihren Freunden, ihrer Clique und deren gemeinsame Aktivitäten.

„Peergroups ermöglichen neuartige Teilnahme- und Selbstverwirklichungschancen, denn sie bieten ihren Angehörigen vollwertige Mitgliedschaftsrollen, die sich erheblich von denen unterscheiden, die sie in ihren Familien und Schulen innehaben“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 174).

Dennoch erleben Jugendliche in der Peergroup ähnliche Lebenslagen und Entwicklungskrisen wie in ihrer Familie. Ob Streit mit den Eltern, Schulprobleme bis hin zur ersten sexuellen Liebeserfahrung: Die Peergroup gilt zudem als Austauschbörse von Gefühlen, Sexualität und anderen Bedürfnissen der Jugendlichen. Die Peergroup bietet

„Raum, in dem die Intimitäts- und Schamgrenzen, die gegenüber Eltern und Erwachsenen zunehmend aufgerichtet werden, durchlässiger sind“ (Liebsch 2012, S. 162).

Das Teilen und Anvertrauen von Geheimnissen und Gefühlen, bzw. die Loyalität gegenüber dem Mitmenschen, stärkt und unterstützt Jugendliche bei ihrer Entwicklung.

„Gut funktionierende Freundschaften sind ein Indiz für die erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 174).

2.1.3 Schule und Arbeit

Die Lebenswelt Schule und Arbeit hat eine enorme Bedeutung für Jugendliche, da sie einen besonders hohen Zeitaufwand erfordert. Neben den Zielen der kulturellen und gesellschaftlichen Wissensvermittlung sollten laut der Shell-Jugendstudie 2002 ebenfalls folgenden Kriterien Aufmerksamkeit geschenkt werden:

- Schule ermöglicht die Aneignung intellektueller Kompetenzen ebenso wie sachbezogener und funktioneller Verhaltensweisen
- Schule beeinflusst die Zukunftsperspektiven der Schüler und somit die Vergabe gesellschaftlicher wie beruflicher Positionen durch die Bewertung der Schulleistungen
- Schule fördert soziale Integration und Akzeptanz der Jugendlichen durch die Gewöhnung an gesellschaftliche und soziale Lebensbedingungen

Diese Faktoren schaffen die Basis für ein produktives und selbstverantwortliches Leben (vgl. Albert et al. 2002, S. 54f).

Die Schule als Sozialisationsinstanz übernimmt demnach wichtige Aufgaben für die jugendliche Entwicklung, so zum Beispiel die Integration in gesellschaftliche Strukturen, die zugleich soziale Bezugssysteme für die Jugendlichen sind, mit denen sie sich subjektiv auseinandersetzen und dadurch ihre individuelle Persönlichkeit aufbauen (vgl. Hurrelmann 2007, S. 93). Die Lebenswelt Schule und Arbeit stellt sozusagen ein weiteres Übungslager für Jugendliche dar, in dem sie all ihre Bedürfnisse befriedigen, Kräfte messen und Kompetenzen erweitern können.

„Schule ist der ‚Arbeitsplatz‘ der Jugendlichen, der über eine lange Spanne der Lebenszeit hinweg Intellekt, Emotionen und soziales Verhalten prägt“ (Hurrelmann 2007, S. 93).

Genau diese Herausforderungen für Jugendliche haben Eltern an die Institution Schule abgegeben. War die Einführung in berufliche oder auch gesellschaftliche Qualifikationen früher vornehmlicher Aufgabe der Eltern, übernehmen jetzt Lehrkräfte, Mitschüler und Freunde diese Aufgabe innerhalb der Schule. Die Lebenswelt Schule soll den Jugendlichen Vorstellungen von sozialer Rangfolge sowie Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg vermitteln und sie so auf die Realität im Arbeitsleben vorbereiten (vgl. Hurrelmann 2007, S. 94). Ein weiterer Grund, warum Schule und Arbeit für Jugendliche eine enorme Bedeutung hat, ist, dass die Jugendlichen gerade in der Schule oder auch in der Ausbildungszeit am Arbeitsplatz, in Klassen, in Kursen oder auf dem Schulhof auf das andere Geschlecht treffen, welches im Jugendalter von speziellem Interesse ist.

„In der Tat bietet die Schule einen fast einzigartigen Raum für vielfältige Kontakte zwischen Mädchen und Jungen. Im Gegensatz zur Familie, Peergroup und den meisten Interessengemeinschaften leben hier Angehörige beider Geschlechter und derselben Altersstufe nicht nur ‚notgedrungen‘ kontinuierlich auf engem Raum zusammen, sie werden vielmehr von der Institution auch zu permanenten kommunikativen Akten gezwungen. So kommt es zwangsläufig auch zu sexuell gefärbten Interaktionen “ (Schmidt/Schetsche 1998, S. 53).

Folglich kann man davon ausgehen, dass die Lebenswelten Schule und Arbeit in Bezug auf Sexualität und Partnerfindung ebenfalls eine erhebliche Rolle bei den Jugendlichen spielen.

2.1.4 Web 2.0

Das Web 2.0 hat sich in den letzten zehn Jahren zu einer weiteren bedeutenden Lebenswelt von Jugendlichen entwickelt. Dabei wird unter Web 2.0 eine interaktive und kollaborative Nutzungsmöglichkeit des Internets verstanden, die es dem Verwender (User) erlaubt, nicht nur lediglich als primär passiver Informationsempfänger zu fungieren, sondern vielmehr als aktiver User, der ohne großen zusätzlichen technischen Aufwand im Netz persönliche Inhalte veröffentlichen kann. Somit bedeutet, kurz gesagt, das Web 2.0 Partizipation und Interaktion im Internet. User des Web 2.0 sind folglich nicht mehr vornehmlich als Konsumenten zu begreifen, sondern als sogenannte Prosumenten, d. h. Konsumenten und Produzenten in einem, die neben der Konsumption proaktiv Inhalte im Netz erzeugen und im Austausch mit anderen Usern Inhalte teilen. Dieser Austausch vieler Kommunikatoren (many-to-many) im Rahmen des Web 2.0 findet hauptsächlich über soziale Online-Netzwerke, sogenannte „Social Network Sites“ (SNS) statt. Eine aktuelle Definition von SNS geben Boyd und Ellison:

„A social network site is a networked communication platform in which participiants 1) have uniquely identifiable profiles that consist of user-supplied content, content provided by other users, and/or system-level data; 2) can publicly articulate connections that can be viewed and traversed by others; and 3) can consume, produce, and/or intact with streams of user-generated content provided by their connections on the site” (Boyd & Ellison 2013, S. 158).

Das durch SNS veränderte Kommunikationsverhalten von Internetnutzern bewertet Burger wie folgt:

„Dies bedeutet in der Konsequenz, dass ein zentraler hierarchischer Mediendiskurs durch ein geradezu unkontrollierbares Geflecht an Informationen und Meinungen unterlaufen wird. Die soziale Vernetzung, das Netzwerken (Networking) gewinnt im Sinne einer partizipativen Äußerungsvielfalt enorme Brisanz“ (Burger 2013, S. 10).

Aufgrund der Möglichkeit der Partizipation und sozialen Interaktion finden SNS, wie z. B. besonders das weltweit größte soziale Netzwerk facebook, unter dem Gesichtspunkt des many-to-many-Austauschs unter gleichberechtigten Kommunikatoren bei Jugendlichen, die mit diesen digitalen Medien aufwachsen, immer mehr Präsenz und Gefallen. Über SNS hinaus bietet das Web 2.0 für jeden Nutzer die Möglichkeit, z. B. durch im Netz angebotene Baukastensysteme, persönliche Websites, sogenannte Weblogs, kurz Blogs, zu erstellen. Insgesamt bietet das Web 2.0 zahlreiche Möglichkeiten, Texte, Fotos, Audios und Videos zu publizieren. Inhalte im Web 2.0 verweisen darüber hinaus häufig auf immer wieder neue oder andere Inhalte. Diesem virtuellen Raum und dessen Austauschmöglichkeiten der Kommunikation sind kaum Grenzen gesetzt (Burger 2013, S. 11).

Jugendliche nutzen das Internet täglich und verbringen dabei inzwischen die meiste Zeit damit, über ihr Smartphone oder zu Hause am PC auf SNS zu surfen. Die Shell-Studie (Albert et al., 2010) zeigt, dass 97 % der Jugendlichen in Deutschland einen Internetzugang und davon fast alle mindestens einen Account auf einer SNS haben. Die Studie „Jugend, Information und Multimedia“ (JIM-Studie 2012) besagt, dass sich bereits 78 % der 12- bis 19-Jährigen täglich oder mehrmals in der Woche in ein soziales Netzwerk, wie z. B. facebook, einloggen.

Jugendliche treffen sich nach der Schule bei facebook, lernen neue Leute kennen oder tauschen sich aus über die alltäglichen Dinge des Lebens, wie z. B. Gefühle, Befindlichkeiten, Interessen und Neuigkeiten. SNS kommen dem Bedürfnis Jugendlicher nach Selbstdarstellung und Aufmerksamkeit entgegen, verbunden mit der Möglichkeit, die bisherigen sozialen Kontakte zu erweitern.

Dies gilt für Jugendliche im Besonderen, da für ihr Wohlergehen der Kontakt zur Peergroup, sei er physisch oder virtuell, als essenziell bezeichnet werden darf. Die Peergroup dient als Übungsfeld, wie beispielsweise ein Pausenhof, um Konfliktlösungen, Beziehungsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung zu erproben (vgl. Meyersieck & Borg-Laufs, 2012, S. 8). Jugendliche werden bereitwillig im Web 2.0 zu Prosumenten, indem sie sich dort ausprobieren, Freundschaften knüpfen, miteinander chatten und dabei ihren eigenen „Freundschaftswert“ austesten. Die Möglichkeiten sozialer Online-Netzwerke kommen dem großen Bedürfnis Jugendlicher entgegen zu erfahren, wie sie auf andere wirken und wie beliebt sie selbst sind.

„Soziale online-Netzwerke dienen u. a. als Bühne zum Flirten und zur Partnersuche “ (von Martial 2012, S. 89).

2.2 Definition Sexualität

Unter dem Begriff „Sexualität“ wird allgemein die „Geschlechtlichkeit“ verstanden. Sie bezeichnet zunächst eine allgemeine und grundlegende Äußerung des Lebens, die beim Menschen in drei Funktionen gegliedert werden kann:

Fortpflanzung (reproduktiv)

Beziehung und Kommunikation (soziokulturell)

Lustgewinn und Befriedigung (rekreativ)

Diese Grundfunktionen werden vom Menschen in seinem Leben jeweils sehr individuell gestaltet und erlebt (vgl. Pschyrembel 2003, S. 485). Die Sexualität besteht und begleitet den Menschen ein Leben lang.

Arnulf Hopf erwähnt neben diesen drei Aspekten außerdem noch einen vierten, nämlich den der sexuellen Identität (Geschlechtsrollen). Hopf sieht Sexualität als zentralen Bestandteil einer Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Hopf 2002, S. 12ff).

Sexualität führt über die Kindessexualität zur Jugend- und anschließenden Erwachsenensexualität bis hin zur Alterssexualität, die wie die menschliche Persönlichkeit auf sehr individuelle Weise äußeren Einflüssen unterworfen ist. Individuelle Prägung, Sexualerziehung und Traumatisierung spielen dabei eine wichtige Rolle für jeden Einzelnen. Für alle Menschen hat Sexualität für ihr Wohlbefinden, ihre körperliche und psychische Gesundheit und auch in sozialer Hinsicht eine große Bedeutung (vgl. Pschyrembel 2003, S. 485). Stein-Hilbers erwähnt, dass die biologische Geschlechtlichkeit im Sinne der reinen Fortpflanzung wie auch im Sinne des mit unmittelbarem Lustgewinn verbundenen Sexualtriebs abgelöst wurde, und zwar von einer

„Sexualitäts-Auffassung, die Menschen – und damit auch ihre Sexualität – als gesellschaftlich geworden und durch soziale Praktiken geformt begreift“ (Stein-Hilbers 2000, S. 26).

„Vielmehr repräsentieren Imagination und phantasmatische Besetzungen des Körpers, Wünsche und Erfahrungen, Körpererleben und – sensationen individuell und kollektiv ein Konstrukt, das ‚Sexualität‘ genannt wird “ (Stein-Hilbers 2000, S. 12).

Das folglich breite Spektrum menschlicher Sexualität zwischen ererbten Anlagen und erworbenen Gewohnheiten ist schwer festzulegen.

„Offensichtlich hat die Sexualität des Menschen biologische, psychische und soziale Komponenten, die auf komplizierte Weise miteinander verknüpft sind, und man kann jede Einzelne nur verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit den anderen sieht. Genau dies versucht die interdisziplinäre Sexualwissenschaft: Sie versucht den Menschen als bio-psycho-soziales Wesen zu verstehen“ (Haeberle 2005, S. 11).

2.3 Sexuelle Entwicklung im Jugendalter

2.3.1 Psychosexuelle Entwicklung im Jugendalter

Fritz Mattejat beschreibt im Wesentlichen sieben allgemeine bio-psychosoziale Entwicklungsaufgaben der Jugendlichen während ihrer Pubertät (vgl. Mattejat 2008, S. 82).

- Die körperliche Reifung
- Die Jugendlichen müssen die körperlichen Veränderungen und die des eigenen Aussehens begreifen und akzeptieren.
- Die Aneignung männlichen und weiblichen Rollenverhaltens
- Der Jugendliche nimmt Kontakt zu Gleichaltrigen auf; insbesondere enge und intime Beziehungen.
- Einen eigenen Freundeskreis aufbauen
- Jugendliche bauen nun enge und tiefe Beziehungen zu ihren Altersgenossen auf.
- Bindung und Ablösung vom Elternhaus
- Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern.
- Orientierung auf das Berufsfeld
- Erste Überlegungen in Bezug auf die Berufswahl.
- Differenzierung eines internalisierten moralischen Bewusstseins

Kultiviert wird ein sozial verantwortliches Handeln. Werte, Prinzipien und Einstellungen werden neu gebildet. Kultur, Bildung, Konsummarkt, Medien und Genussmittel gewinnen an Bedeutung.

-Selbstbewusstsein, Identitätsentwicklung und Zukunftsorientierung

Jugendliche werden sich über ihre Stärken und Schwächen klar. Sie fangen an zu erörtern, wie sie sich selbst und andere sehen.

In Bezug auf die Sexualität gilt die Pubertät als besonderer Lebensabschnitt. Sie stellt Jugendliche und ihre Eltern vor ganz neuen Herausforderungen. Allgemein wird die Pubertät als die Phase der Integration und Manifestierung sexueller Orientierung und Begehrensstrukturen verstanden. Es werden sexuelle Verhaltensmuster und Gewohnheiten entwickelt, die meist bis ins hohe Alter beibehalten werden. Sie werden jedoch im Laufe des Lebens weiterentwickelt und modifiziert (vgl. Stein-Hilbers 2000, S. 71). Gerade die psychischen Folgen der Pubertät sind für Jugendliche sehr einschneidend.

„Die meisten Jugendlichen empfinden ihrem Körper gegenüber ein Fremdheitsgefühl. Durch die sexuelle Reifung und den Wachstumsschub verändert sich nicht nur der Körper selbst, sondern auch das Körpererleben“ (Heuves 2010, S.17).

Folglich bedeutet das, dass sich die Jugendlichen durch die körperliche und sexuelle Reifung mit neuen und starken Gefühlen auseinandersetzen müssen. Jugendliche müssen sich von nun an mit ihren sexuellen Erregungen und der Möglichkeit, einen Orgasmus zu erleben, vertraut machen. Solche neuartigen, oftmals diffusen Gefühle zu bewältigen und zu verarbeiten, stellt eine wichtige Entwicklungsaufgabe dar. Phantasien und sexuelle Gefühle sind neuartig und noch nicht fest an einer Person oder am anderen Geschlecht orientiert. Im Gegensatz zu Erwachsenen ist Sexualität nicht an eine bestimmte sexuelle Situation gebunden. Jugendliche können ihren sexuellen Gefühlen und Erregungen noch keinen sicheren Platz zuweisen. Sie tun sich oft schwer damit, da sich sexuelle Inhalte in Situationen bemerkbar machen, die in erster Linie rein gar nichts Sexuelles beinhalten, z. B. vor oder in der Klasse. Jugendliche können noch nicht einschätzen, wann eine sozial-neutrale Situation als eine sexuelle Situation verstanden werden darf. Das heißt, jede spannungsgeladene Situation kann eine sexuelle Erregung oder Reaktion beim Jugendlichen erzeugen (vgl. Heuves 2010, S. 18).

„Das Vertrautwerden mit der eigenen und der Sexualität anderer beginnt. Kindliche Erfahrungen und Erlebnisse werden in dieser Zeit neu interpretiert“ (Stein-Hilbers 2000, S. 72).

In Bezug auf die oben genannten Entwicklungsaufgaben Mattejats, insbesondere der Aneignung männlichen und weiblichen Rollenverhaltens, fokussiert sich die Wahrnehmung der Jugendlichen auf einen zentralen Aspekt der Selbst- und Fremddarstellung hinsichtlich der Erotik und der sexuellen Begehrtheit. Allerdings erfordern sexuelle Interaktionen die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zudem, sich aus der Perspektive des Gegenübers wahrzunehmen (vgl. Stein-Hilbers 2000, S. 73).

„Körperzustände und -sensationen müssen psychisch gedeutet und gleichzeitig auf die etablierten Muster zur Gestaltung sexueller Interaktionen abgestellt werden“ (Stein-Hilbers 2000, S. 73).

Zunächst richtet sich das Begehren der Jugendlichen noch auf unerreichbare Liebesobjekte, z. B. auf Popstars oder andere Idole. Die Jugendlichen entwickeln dabei ausgeprägte, auf diese Objekte gerichtete anreizende Phantasien. Erst allmählich treten an deren Stelle reale Personen (vgl. Stein-Hilbers 2000, S. 72).

2.3.1.1 Veränderungen innerhalb der Jugendphasen

Die körperliche Reifung, die zur sexuellen Reifung und Veränderung führt, lenkt die Aufmerksamkeit, die zunächst fremd erscheint, zentral auf den Körper und seine sexualisierten Eigenschaften und Merkmale. Die Menarche bzw. die erste Ejakulation verkörpert den Zugang in die neue und noch fremde Welt der Erwachsenen. Es werden neue Konstrukte von Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert und neu interpretiert: die bewusste Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen, die gebären können, und die Gruppe der Männer, die zeugen können (vgl. Stein-Hilbers 2000, S. 71). Zirka acht Monate vor der Menarche beginnt bei Mädchen bereits Brust- und Schamhaarwachstum. Oftmals wird die Menarche von den Mädchen als Kristallisationspunkt der Pubertät bewertet. Sie hat deutlich weniger mit sexuellem Erleben zu tun als vielmehr mit einem hohem Umfang an höchst diffusen und fremden Empfindungen und Wahrnehmungen. Von diesem Zeitpunkt an haben Mädchen Gefühle der Scham und ebenso Stolz. Sie müssen sich neuerdings um verstärkte Körperhygiene kümmern und entscheiden, mit wem sie darüber sprechen möchten und mit wem nicht. Auch birgt diese neue, fremde Phase von nun an Gefahren für die Mädchen, immerhin können sie ab diesem Zeitpunkt schwanger werden. Restriktionen und Reglementierungen, z. B. durch die Eltern, kommen auf die Mädchen zu – häufig entgegengesetzt zu ihren Wünschen und Bedürfnissen, ab sofort ihre Weiblichkeit und Attraktivität auszuprobieren und betonen zu wollen (vgl. Stein-Hilbers 2000, S. 71).

Bei Jungen beginnt die Pubertät mit der ersten Ejakulation, folglich auch die Zugehörigkeit zur Gruppe der fortpflanzungsfähigen Männer.

„Die potentielle Zeugungsfähigkeit wird von den Jungen als Zuwachs an Männlichkeit und auch an Aktionsmöglichkeiten empfunden und geht einher mit entsprechenden Mitteilungen und auch Prahlereien in der Gleichaltrigen-Gruppe“ (Stein-Hilbers 2000, S. 71).

In dieser Entwicklungsphase erfahren Jungen höhere Toleranzgrenzen als Mädchen. Sie werden weder mit strengen Reglementierungen noch mit Einschränkungen in ihren Aktionsräumen konfrontiert. Ganz im Gegenteil, von Jungen werden zunehmend gefordert, sich Ausdrucksformen der Männlichkeit anzueignen.

„Riskante und gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen – Sachbeschädigung, harte Risikopraxen, riskanter Fahrzeuggebrauch, verstärkter Alkohol- und Zigarettenkonsum – gelten als fast zwangsläufige Begleiterscheinung “ (Stein-Hilbers 2000, S. 72).

Die WHO teilt die psychosexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in fünf verschiedene Phasen auf, wobei ich die fünfte und letzte Phase und deren Merkmale hervorheben möchte (vgl. WHO/BZgA 2011, S. 30):

- Jugendliche sind sehr verunsichert, was das Wachstum ihres Körpers angeht
- Jugendliche müssen sich erst an ihren neuen Körper gewöhnen, sie sind verlegen und fühlen sich oft unwohl in ihrem Körper
- Sie entwickeln ein sexuell geprägtes Selbstbild und betrachten sich als jemanden, der Sexualität haben kann, was wichtig für sie ist und aufgrund dessen sie gut aussehen wollen – für sich selbst und für den potenziellen Partner
- Sie sind sehr empfindlich, was die Meinung anderer angeht. Sie lassen sich sehr leicht durch Altersgenossen beeinflussen
- Sie finden schnell Menschen gleichen Alters sexuell attraktiv
- Jungen und Mädchen finden allmählich heraus, ob sie Jungen oder Mädchen sexuell attraktiv finden (sexuelle Orientierung)
- Sie verlieben sich bewusst zum ersten Mal in ihrem Leben
- Sie flirten miteinander und entwickeln Beziehungen
- Sie machen erste Erfahrungen im Bereich Küssen, Streicheln und Petting
- Die Jugendlichen werden unabhängiger und sind nicht mehr so stark an ihre Eltern gebunden
- Sie experimentieren mit Beziehungen
- Die sexuellen Erfahrungen nehmen in der Regel folgenden Ablauf: Küssen, Berühren, Streicheln mit Kleidung, Petting nackt, Vaginalverkehr, schließlich Oralverkehr und vereinzelt Analverkehr.
- Die Jugendlichen werden erfahrener im Umgang mit dem anderen Geschlecht: Bedeutend sind das Verhandeln, Kommunizieren und Formulieren von Wünschen, Grenzen und Respektbezeugungen

2.3.1.2 Probleme innerhalb der Jugendphasen

Die Pubertät ist eine hochsensible und aufregende Zeit für Jugendliche.

„Ab der Pubertät führen biologische, soziale und vor allem kognitive Veränderungen dazu, dass die meisten Jugendlichen zwar selbstständiger aber auch kritischer werden, vor allem mit sich selbst und mit den eigenen Eltern, denn langsam wird klar, dass auch sie nicht immer eine Antwort haben. Zumindest haben sie nicht immer die richtige Antwort“ (Watzlawik 2004, S. 156).

Folglich gewinnen Peergroups an Bedeutung. Sie bestimmen jetzt, welches die richtigen Antworten auf die Fragen der Jugendlichen sind, und üben Macht aus, wenn es um das eigene Selbstwertgefühl geht. In der Peergroup geben sich Jugendliche untereinander Anerkennung, sind aber auch in der Lage, sich gegenseitig zu diskreditieren. Ablehnung innerhalb der Peergroup ist vor allem in dieser hochsensiblen Phase des Jugendalters, in der man in seinem selbsterwähltem sozialen Umfeld nach Bestätigung sucht, eine katastrophale Erfahrung (vgl. Watzlawik 2004, S. 156). Gemeinsame Freizeitaktivitäten, eine Allianz gegen die Eltern bildend, gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse, zudem noch dasselbe Interesse an Musik, Sport, Stars oder am Faulenzen, ermöglichen eine Zugehörigkeit und ein Wiedererkennungsgefühl außerhalb des Elternhauses. Die Fragen, wer man sein will und sein darf oder was zur Akzeptanz und was zur Ablehnung der Peergroup führt, gestalten und beantworten sich in dieser Phase des Jugendalters und können, vor allem durch die abwechslungsreichen Optionen in der heutigen Zeit, ungeahnte Freiheiten bieten (vgl. Watzlawik 2004, S. 156). Neuartige Gefühle und die damit verbundene Konfrontation verlangen von Jugendlichen neue Mittel und Wege, damit umzugehen und Neues auszuprobieren. Jugendliche werden gefordert, diese neuen Eigenschaften für sich selbst zu akzeptieren und ihnen einen Platz zuzuweisen (vgl. Heuves 2010, S. 17). Durch die körperliche, noch etwas fremde Veränderung sind die Jugendlichen noch sehr unsicher auf ihrem Terrain, dies zeigt sich oft in starken Zweifeln über die eigene äußere Erscheinung. Fast alle Mädchen sind bezüglich ihrer Figur und ihres Körperselbstbilds unsicher. Sie fühlen sich zu dick, zu dünn, zu klein oder zu groß (ebd.).

Mrazek (1987) behauptet, dass mit zunehmendem Alter der Jugendlichen Narzissmus und Körperpflege wichtiger werden, während Sport, Gesundheitsprobleme und Kontakt zu den Eltern ihr Gewicht nicht verändern (vgl. Oerter/Montada 2002, S. 282). Bei Jungen zeigt sich die pubertäre Unsicherheit vor allem bezogen auf ein sportliches Äußeres: breite Schultern, ausgebildete Muskeln, Bartwuchs und Stimmbruch sind für sie wichtige Aspekte.

„Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Besorgnis um das Äußere mit der Unsicherheit über den neuen sexuellen Körper zu tun hat. Und wer die Jugendzeitschriften aufschlägt, sieht mit einem Blick, dass die Attraktivität für das andere Geschlecht das Wichtigste zu sein scheint“ (Heuves 2010, S. 17).

Jugendliche, die sehr früh oder sehr spät in die Pubertät kommen, fühlen sich oft von der Peergroup abgelehnt oder isoliert. Sie fürchten, den Anschluss an ihre Gleichaltrigen-Gruppe zu verpassen oder ausgestoßen zu werden. Allerdings erwähnt Heuves, dass Jugendliche mit viel Selbstbewusstsein es weniger schwer haben als andere, die sich sehr unsicher fühlen.

„Es bleibt übrigens wichtig festzuhalten, dass die Qualität des Familienlebens ein entscheidender Faktor ist: Je mehr Probleme es in der Familie gibt, desto unsicherer ist der Jugendliche mit sich selbst“ (Heuves 2010, S. 18).

2.3.2 Der Umgang mit dem eigenen Körper

In einer repräsentativen Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2010 zum Thema Jugendsexualität kam heraus, dass Jugendliche in ihrer sexuellen Entwicklung und in der Pubertät ihren Körper ganz bewusst neu erleben und wahrnehmen. Jugendliche müssen sich folglich mit ihrer neuen Körperlichkeit auseinandersetzen und nehmen dies zwangsweise als Herausforderung an. Durch die Bildung der Geschlechtsmerkmale, die körperliche und sexuelle Reifung gewinnt für Jugendliche die Norm in Hinsicht auf das Äußere neue, große Bedeutung (vgl. BZgA 2010, S. 92).

Die Studie der BZgA hat sechs verschiedene Dimensionen des körperlichen Bewusstseins von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 erfasst. Insbesondere wurde das subjektive Körperbewusstsein eines jeden einzelnen in Augenschein genommen. In Abbildung 1 und 2 wird deutlich, dass knapp die Hälfte der weiblichen Jugendlichen und über 70 % der männlichen Jugendlichen sich tatsächlich wohl in ihrem Körper fühlen. Folglich verspüren Jugendliche ein gutes Körperbewusstsein und Körpererleben.

Knapp 70 % der weiblichen Jugendlichen und knapp 80 % der männlichen Jugendlichen achten sogar darauf, sportlich fit zu bleiben und ihren Körper in Form zu halten. Auch auf ihr Styling legen Jugendliche einen recht großen Wert. Allerdings ist geschlechtsstereotypisch festzustellen, dass es in dieser Kategorie einen kleinen prozentualen Unterschied gibt. Zirka 75 % der Mädchen achten auf ihr Styling und stylen sich auch gerne. Dagegen stylen sich die Jungen und achten auf ihr Äußeres nur zu knapp 50 % gern. Deutlich zu erkennen ist, dass das Styling in der Pubertät eines der wichtigsten Dinge für die Mädchen ist, die sie mit ihrem Körperbewusstsein in Verbindung bringen, während Jungen andere Prioritäten haben. Für die männlichen Pubertierenden sind Sport und Fitness die definitiven Präferenzen.

Abbildung 1: Körperbewusstsein 14- bis 17-jähriger Mädchen

(Quelle: BZgA 2010, S. 92)

Abbildung 2: Körperbewusstsein 14- bis 17-jähriger Jungen

(Quelle: BZgA 2010, S. 93)

Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Jugendliche ihr Körperempfinden durchaus zunächst positiv bewerten. Großartige geschlechtsstereotypische Unterschiede in den Aussagen sind nicht nachzuweisen. Allerdings kommen Jungen mit ihrem Körpergewicht besser klar als die Mädchen. Nur knapp 10 % der Jungen fühlen sich entweder zu dick oder zu dünn, wohingegen knapp 25 % der Mädchen sich zu dick oder zu dünn fühlen.

Vor allem hat die Atmosphäre im eigenen Elternhaus tatsächliche Auswirkungen auf das individuelle Körperempfinden Jugendlicher. Offenbar hängen Wohlfühlen und Selbstvertrauen zusammen, denn je mehr die Jugendlichen sich im Elternhaus ernst genommen fühlen, desto positiver empfinden sie ihren eigenen Körper (vgl. BZgA 2010, S. 95f).

Auch der sexuelle Umgang mit dem eigenen Körper in Form von Masturbation ist unter Jungen eine stark verbreitete Aktivität, während sich Mädchen nur zu einer Minderheit in dieser Form mit ihrem Körper beschäftigen. In Abbildung 3 wird bestätigt, dass knapp 80 % der 17-jährigen Jungen zu ihrer körpereigenen Erotik in Form von Masturbation stehen und diese auch ausüben. Der Prozentsatz der 17-jährigen Mädchen liegt hingegen nur bei knapp 30 %.

Abbildung 3: Erfahrungen mit Masturbation in letzen 12 Monaten

(Quelle: BZgA 2010, S. 117)

Des Weiteren ist zu erwähnen, dass sowohl die Bildung als auch die sexuellen Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht keine Rolle spielen, was das Praktizieren von Masturbation angeht (vgl. BZgA 2010, S. 118).

2.3.3 Der Umgang mit Sexualpartnern

Die Ergebnisse der BZgA-Studie zur Jugendsexualität im Jahr 2010 geben kein alarmierendes Sexualverhalten der Jugendlichen an. Wichtig erscheint es allerdings, den Fokus auf die Entwicklung der sexuellen Aktivitäten zu richten. Wie in Abbildung 4 deutlich wird, haben knapp 80 % der 15-jährigen Mädchen bereits sexuelle Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. Mit aufsteigendem Alter nehmen auch die sexuellen Erfahrungen dann zu. 85 % der 16-jährigen Mädchen und 92 % der 17-jährigen Mädchen haben laut BZgA-Studie sexuelle Erfahrungen gemacht. Ebenso wie die Mädchen haben auch die Jungen, die sehr früh die sexuelle und körperliche Reife erreichen, auch meist eher Sexualkontakte. Knapp 80 % der 15-jährigen Jungen haben längst erste sexuelle Erfahrungen machen dürfen. Mit aufsteigendem Alter nehmen dann auch die sexuellen Erfahrungen zu. Ein sehr starker Unterschied zur Gruppe der Mädchen ist jedoch nicht zu erkennen. 89 % der 16-jährigen Jungen und 92 % der 17-jährigen Jungen haben laut BZgA-Studie sexuelle Erfahrungen gemacht.

Abbildung 4: Noch keinerlei sexuelle Erfahrungen

(Quelle: BZgA 2010, S. 101)

Zwei Gründe, aus denen sich 14-jährige Mädchen und Jungen sexuell zurückhalten oder noch nicht allzu viele sexuelle Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht gesammelt haben, waren:

-Das gewichtigste Argument: das Fehlen des richtigen Partners
-Die eigene Schüchternheit, den jeweiligen Auserwählten anzusprechen

„Bei den Jugendlichen rückt das Fehlen des oder der Richtigen immer mehr in den Vordergrund, je älter die Mädchen und Jungen sind. Das Argument ‚man fühle sich zu jung‘ verliert dagegen an Einfluss“ (BZgA 2010, S. 102f).

Eine große Rolle für das sexuelle „Sicheinlassen“ spielt erwartungsgemäß auch die Vertrautheit mit den jeweiligen Partnern. In Abbildung 5 wird offensichtlich, dass knapp 65 % der 14- bis 17-jährigen Mädchen mit ihrem ersten Sexualpartner befreundet oder vielmehr „zusammen“ waren. Fast 30 % der Mädchen kannten ihren ersten Sexualpartner gut. Je fremder der Sexualpartner war, desto weniger Mädchen hatten auch mit ebendiesem einen Sexualkontakt. Nicht wesentlich anders zeigt die Untersuchung auch die Ergebnisse der 14- bis 17-jährigen Jungen. Knapp 60 % der Jungen hatten eine feste Beziehung, und knapp 25 % kannten ihre Partnerin immerhin gut. Nur 11 % der Jungen kannten ihre Partnerinnen flüchtig, 3 % gar nicht. Bei Jugendlichen bleibt demnach für beide Geschlechter festzuhalten, dass, je älter sie werden, desto kultivierter werden ihre individuellen Erfahrungen, und je älter sie werden, desto häufiger lassen sie sich in einer festen Beziehung auf den „richtigen“ Sexualpartner ein.

Abbildung 5: Bekanntheit mit Partner des ersten Geschlechtsverkehrs

(Quelle: BZgA, S. 131)

58 % der Mädchen, die mit 14 oder noch früher einen Sexualpartner hatten, bezeichneten diesen als ihren festen Freund. Bei den Mädchen, die 16 bzw. älter waren, sind es bereits 72 %. Bei den Jungen sind es 52 %, die ihren ersten Sexualpartner mit 14 oder früher hatten. Knapp 65 % der Jungen waren 16 oder älter beim ersten Geschlechtsverkehr. Allerdings ist nicht festzustellen, dass sich die „Jüngeren“ häufiger auf fremde oder unbekannte Partner einlassen. Diese Merkmale lassen sich nicht anhand der Altersgruppe der Jugendlichen festmachen (vgl. BZgA 2010, S. 132).

Mädchen und Jungen erproben und durchlaufen demnach mehrere Grade von individuellem Herantasten an Sexualität mit sich selbst und später dann mit den dazugehörigen Sexualpartnern. Es erfolgt eine schrittweise Einübung der partnerorientierten Sexualität im Leben der Jugendlichen. Es fehlt ihnen erfahrungsgemäß nicht an Gelegenheiten, sich in ihrer Freizeit auszutauschen, Sexualpartner zu finden und erste Versuche in diese neue Richtung einzuleiten. Sie suchen sich ungestörte Räume, vorwiegend zunächst in der elterlichen Wohnung, z. B. im Kinderzimmer, um einander näher zu kommen. Es ist ein langjähriger Prozess, in dem die Jugendlichen peu à peu immer wieder neue sexuelle Erfahrungen machen (vgl. Stich 2003, S. 99f). Jugendliche stellen sich folglich täglich neuen Herausforderungen und nehmen Anforderungen an, sich selbst neu wahrzunehmen und zu spüren, was ihnen mehr oder weniger gut tut. Es entsteht darüber hinaus ein gesellschaftlicher Modernisierungsprozess, so Stich, verbunden mit dem Wegbrechen „selbstverständlicher“, unhinterfragter sexueller Normen und Rollenmuster (vgl. Stich, S. 100). Wie bereits in den oben genannten Studien der BZgA 2010 erwähnt, haben Jugendliche vor ihrem ersten Geschlechtsverkehr meist mehrere Beziehungen mit einem eindeutigen Zugehörigkeitsgefühl bzw. in einer festen Partnerschaft. Besonders wichtig ist es für Jugendliche, dass ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse mit ihren Sexualpartnern abgesprochen und abgestimmt werden, ohne dabei in einen Konflikt zu den Erwartungen in der Peergroup zu geraten. Meistens gelingt den Jugendlichen diese Balance, wobei ausgiebige Pettingerfahrungen – oft mit mehreren Partnern – zu den jugendkulturellen Selbstverständlichkeiten gehören (vgl. Stich 2003, S 102).

Aussage eines 16-jährigen Teenagers:

„Auf jeden Fall haben wir dann halt zusammen in einem Bett geschlafen, und da war aber überhaupt nichts. Nur morgens hat er sich so an mich gekuschelt und so…Und dann, von dem Zeitpunkt an war das eigentlich so eine Zeit lang nur so eine, ja, so eine Kuschelbeziehung (Tatjana, 16 Jahre alt)“ (Stich 2003, S. 102).

Probleme gibt es beim Anlauf zum ersten Geschlechtsverkehr zuhauf. Jugendliche differenzieren ganz genau zwischen ihrem Körpererleben und ihrer emotionalen Befindlichkeit, in der das gesamte momentane körperliche Erleben und die individuelle Stimmung kollidieren. Somit ist der erste Sexualkontakt mit dem anderen Geschlecht nur eine Sensation im gesamten sexuellen Lernprozess von Jugendlichen.

„Um Sexualität körperlich genießen zu können, brauchen die meisten Mädchen, aber auch viele Jungen einige sexuelle Erfahrungen, manche auch eine neue Partnerschaft“ (Stich 2003, S. 103).

Jugendliche wollen und brauchen eine feste Partnerschaft bzw. Beziehung. Sie ahnen allerdings, dass die momentanen Beziehungen, die sie führen, geprägt von hochromantischen Gefühlen und Hoffnungen, allerdings eventuell nur einen vorübergehenden Charakter in ihrer Lebenswelt haben. Konflikte, veränderte Lebensumstände, Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums, fordern die Beziehungen heraus, und spätestens dann macht es sich bemerkbar, ob die Partnerschaft stabil ist (vgl. Stich 2003, S. 107).

Jugendliche gehen selbstbewusst und mit großer Verantwortung für ihre eigene sexuelle Entwicklung und für diejenige ihrer Sexualpartner um. Der reflexive Umgang in Bezug auf das Warten auf den „Richtigen“ oder die „Richtige“ zeigt dies besonders deutlich.

„Das in hohem Maße reflexive Verhalten Jugendlicher angesichts widersprüchlicher Erwartungen an ein angemessenes Alter für bestimmte sexuelle Erfahrungen und der bewusste Umgang mit Trennungen, die aus dem vorläufigen Charakter der ersten Beziehungen folgen, zeigen beispielhaft, welche beträchtlichen Orientierungsleistungen Jungen und Mädchen infolge des Schwindens der sexuellen Verbotsmoral sowie allgemeingültiger Regeln für voreheliche Sexualität einbringen“ (Stich 2003, S. 110).

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2013
ISBN (PDF)
9783958206304
ISBN (Paperback)
9783958201309
Dateigröße
1.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Pädagogik Facebook Sexualität SNS Soziale Netzwerkseiten
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Martina Schlund ist 1979 in Mülheim an der Ruhr geboren und ist Sozialarbeiterin (B. A.). Sie arbeitet in der stationären Jugendhilfe des sci:moers und betreut dort psychisch kranke Jugendliche und junge Erwachsene. Zudem engagiert sie sich im Bereich der gezielten Mädchenarbeit und war in diesem Zusammenhang u. a. ehrenamtlich bei der pro familia Oberhausen tätig.
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Titel: Sexualpädagogik goes Web 2.0: Sexualpädagogik im Umgang mit sozial-online-vernetzten Jugendlichen
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