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„Es blieb nicht mehr als ein Film ...“: Die Montage und ihre Funktion in Edlef Köppens Roman „Heeresbericht“

©2013 Bachelorarbeit 48 Seiten

Zusammenfassung

Edlef Köppens Antikriegsroman ‘Heeresbericht’ ist ein vergessenes Werk der Weimarer Republik. Trotz herausragender Kritik war es ein kommerzieller Fehlschlag und geriet schnell in Vergessenheit - heute ist der ‘Heeresbericht’ höchstens Literaturwissenschaftlern ein Begriff. Anlässlich der hundertsten Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs soll die Gelegenheit genutzt werden, um einen vergessenen und außergewöhnlichen Autor wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.
Köppens Werk zeichnet sich im Vergleich zu den übrigen Vertretern des Genres durch eine Besonderheit aus, die Ernst Toller wie folgt beschreibt: ‘Köppens Buch Heeresbericht unterscheidet sich formal von allen anderen Kriegsbüchern durch seinen Stil: Ineinander persönlichen Erlebens und allgemeiner Dokumente der grossen Zeit. Dieses Ineinander, das man im Film und in der Photographie Montage nennt, ist Köppen ausserordentlich gelungen.’ Die vorliegende Arbeit untersucht das innovative Schreibverfahren eines Autors, der seiner Zeit damit voraus war.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


II. Die Authentizitätsfrage
,,Sollte nicht endlich die Zeit gekommen sein, die Jahre Vierzehn bis Achtzehn, die immerhin ein
Dezennium zurückliegen und allmählich das Recht fordern 'distanziert' genommen zu werden, mit
heutiger Erkenntnis darzustellen? Photographiert ist genug, Bildchen sind genug gemacht; sollte
nicht endlich die Zeit da sein, ein Bild zu schaffen, das wahre Gesicht zu schaffen?"
12
Für kein anderes Genre war der Anspruch auf Authentizität so wichtig wie für den den Kriegsroman
der Weimarer Republik.
13
Spätestens seit Remarque (1928) galt ,,als höchstes Lob, direkt und
authentisch zu schreiben, so, als ob unter Ausschaltung eines gestaltenden Autors und ohne zeitliche
Distanz das Geschehen sich selbst zur Darstellung gebracht hätte: nackt, einfach, ungeistig, vor aller
Tendenz."
14
Diese Forderungen mögen den Eindruck erwecken, als ginge es bei der Form des
Kriegsromans eher um eine Art Reportage. Tatsächlich interessierten sich Autoren und Lesern aber
weniger für die Vermittlung von Fakten und Informationen, als um die Vermittlung einer
gemeinsamen Erlebnisperspektive
15
- im literarisch rekonstruierten Bild des soldatischen Lebens an
der Front, wollte sich der Leser wiedererkennen. Dieser Wiedererkennungseffekt wurde vor allem
von nationalistischen Strömungen aufgegriffen, die den Krieg als gemeinschafts- und
identitätsbildendes Ereignis betrachteten.
16
Der Wunsch nach einem kollektiv gültigen Erlebnis war
ein direktes Ergebnis des Krieges: Inflation, Massenarbeitslosigkeit und die riesigen Reparations-
forderungen durch den Vertrag von Versailles drohten die junge Demokratie zu ersticken.
17
Der
Hoffnungslosigkeit und ,,persönliche[n] Orientierungslosigkeit des Einzelnen im Meer der
Masse"
18
wurde eine Alternative in Form des zurückliegenden Kriegserlebnisses angeboten. Der
Begriff ,,Kameradschaft wird mystifiziert, die Kampfgemeinschaft wird zur Gemeinschaft
schlechthin. Sie wird gleichsam zum Kern eines erneuerten deutschen Volkes erklärt."
19
Remarque
wurde von dieser nationalistischen Strömung heftig kritisiert, da er die Benutzung der Latrinen, die
sexuellen Bedürfnisse der Soldaten und ihre Todesangst für einen integralen Bestandteil der
Kameradschaft hielt.
20
,,In polemischer, verleugnender oder verdrängender Abgrenzung von einer
12 E. Köppen: Vier von der Infanterie und ein bißchen von der Konfektion. Rez. zu dem Film von G.W. Pabst,
Westfront 1918, S. 958. In: Die Weltbühne 26 (1930) S.957-959. Zitiert nach: Jutta Vinzent: Edlef Köppen, S.114.
13 Vgl. Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Erzählens in der Weimarer
Republik. Peter Lang, Oxford u.a. 2007, S.260.
14 Herbert Bornebusch: Kriegsromane. In: Alexander von Bormann / H. Albert Glaser (Hg.): Weimarer Republik ­
Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil. Rowohlt, Hamburg 1989, S. 138.
15 Vgl. Uecker: Wirklichkeit und Literatur,S.260f.
16 Vgl. R. Schafnitzel: Die vergessene Collage des Ersten Weltkrieges, S.321.
17 Ebend, S.321.
18 Ebend, S.320.
19 Ernst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz: das dritte Reich und seine Dichtung; eine Dokumentation. Fischer,
Frankfurt a. Main 1983, S.179f.
20 Vgl. M. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S.260.
3

Kriegserfahrung, die Souveränität, Einheit und Selbstkontrolle des Individuums in Frage gestellt
hatte, bestehen die meisten Romane auf der Einheitlichkeit von Wahrnehmungs- und Darstellungs-
perspektive, verzichten auf multiperspektivische Erzählformen und auf die Sprengung des Erzähl-
flusses durch den Einbau von Fremdkörpern."
21
Im Gegensatz zu diesem politisch verorteten Erklärungsansatz muss auch die literarische Strömung
der ,,Neuen Sachlichkeit" als mögliche Ursache berücksichtigt werden.
Die programmatischen Forderungen der ,,Neuen Sachlichkeit" sollten der ,,Rehabilitierung der
Objektwelt und ihrer materiellen Oberfläche"
22
dienen. Literarische Fiktion wurde nicht länger als
Mittel zur Entblößung der Wirklichkeit gesehen, sondern als Kompensation für die künstlerische
Ahnungslosigkeit der Autoren von der Welt.
23
Einige zentrale Begriffe des neusachlichen Diskurses
sind: ,,Stil des beobachtenden Berichterstatters, Rückgriff auf Dokumentarisches, exemplarische
Darstellung sozialer Typen, montierende Schreibweise und Nüchternheit der Sprache."
24
Aufgrund
der Anwendung des Montageverfahrens und dem Einbezug mehrerer Perspektiven bietet es sich
daher an Köppens ,,Heeresbericht" der ,,Neuen Sachlichkeit" zuzuordnen.
Auf ein Problem dieses neusachlichen Anspruches zur Authentizität spielt das dem Kapitel
vorangestellte Köppen-Zitat an: Das unmittelbare Erleben des Krieges und die nachträgliche
Betrachtung unterliegen einem subjektiven Veränderungsprozess im Gedächtnis.
25
Aleksander Wat
formulierte das Problem folgendermaßen: ,,Zunächst, was die Authentizität des Tagebuches
anbelangt: jeder, nicht nur jeder der schreibt, weiß ganz gut, wie unbemerkbar, dennoch oft
wesentlich die Veränderungen des Memoirenstoffs sind, wie er, während er den Anschein der
Echtheit nicht verliert, aufhört echt zu sein. Und wieviel mehr nach zehn Jahren."
26
Leonhard Frank setzt dem das Prinzip der ,,inneren" Verarbeitung gegenüber: ,,Im Roman einen
wahren Report der Wirklichkeit zu schreiben, ist nicht möglich, abgeschriebene Wirklichkeit ist
nicht wahr. [...] Es gibt nur die innere Wahrheit. Nur das innere Bild, das man von der
Romangestalt, dem Schauplatz der Situation hat und gestaltet, ist wahr, und da erscheint auf
geheimnisvolle Weise alles so, wie es in Wirklichkeit gewesen ist."
27
Mit anderen Worten: Der
Prozess der subjektiven Bedeutungsbildung kommt nicht einer ,,Verfälschung" des Erlebten
gleich.
28
Diese Beobachtung steht jedoch im Gegensatz zum Anspruch des neusachlichen,
objektiven Tatsachenberichts. Durch das Montieren von offiziellen und persönlichen Dokumenten
21 Ebend. S.263.
22 Ebend. S.87.
23 Ebend. S.87.
24 R. Schafnitzel: Die vergessene Collage des Ersten Weltkrieges, S.322.
25 Vgl. Ebend. S.323.
26 Aleksander Wat: Pazifistische Literatur in Deutschland. 1992. In: Erich Maria Remarque Jahrbuch II. V & R
Unipress, Osnabrück 1992, S.15.
27 Leonhard Frank, zitiert nach M. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S.88f., der keine genaue Quelle angibt.
28 Vgl. R. Schafnitzel: Die vergesse Collage des Ersten Weltkrieges, S.323. 4
4

versucht Köppen diesem Dilemma zu entgehen. Dadurch wird das Werk jedoch nicht ,,objektiver"
als andere: Die Auswahl der Dokumente und ihr Arrangement dienen schließlich immer noch der
subjektiven Bedeutungsbildung des Autors. Die nachfolgende Analyse des Romans wird zeigen,
dass sich Köppen der Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht nur bewusst gewesen sein
dürfte, sondern sie gezielt für das Motiv seines Romans verwendet.
5

III. Die Montage als Schreibverfahren ­ Versuch einer Begriffsklärung
Montage und Collage sind uneinheitlich verwendete Begriffe, die zudem oft synonym gebraucht
werden. Sie beziehen sich sowohl auf die Literaturwissenschaft als auch auf die Bildende Künste.
Beiden Begriffen gemein ist die implizite Annahme, dass es sich nicht nur um ein Endprodukt
handelt, sondern um die Verfahrenstechnik selbst (kleben oder ,,montieren"). Die ,,Entblößung des
Konstruktionsprinzips"
29
steht im Vordergrund, anstelle des abgerundeten, vollenden Werkes.
,,Der Begriff Montage stammt aus dem technischen Bereich und fand zunächst für Kunstformen
Anwendung, die mit Apparaten hergestellt werden: Foto und Film. Das französische Substantiv
,,collage" bedeutet einfach: Aufkleben (umgangssprachlich auch: wilde Ehe)."
30
Im bildnerischen Bereich lässt sich eine Trennung zwischen beiden Begriffen relativ leicht
durchführen: Eine Montage werde nach einem Strukturprinzip konstruiert, in dem die zitierten Teile
deutlich als solche hervortreten. Eine Collage sei demnach eine eher unbewusste Konstruktion mit
generell gleichwertiger Materialherkunft.
31
Gerade der Begriff Montage wird heute aber so vielfältig benutzt, dass eine so eingrenzende
Definition, gerade für die Literatur, unbrauchbar und überholt erscheint. Volker Klotz schlägt
stattdessen folgendes vor: ,,Montage ist ein Kunst-Verfahren, das äußerstenfalls zum Kunst-Produkt
'Collage' führt. Dann nämlich, wenn qualitativ und quantitativ der Fremdcharakter des vor-
gefundenen und vorfabrizierten Materials überwiegt. Demnach setzen Collagen als Verfahren die
Montage voraus, aber nicht alle Montagen bringen Collagen hervor."
32
Volker Hage kommt zu dem
Schluss, dass die ,,literarische Collage [...] also eine Form der Textmontage [ist]: nämlich der wie
auch immer gearteten Montage von Zitaten."
33
Die literarische Montage ist durch das als Fremdtext
erkennbare Zitatmaterial erkennbar. Diese Definition bringt ein neues Problem mit sich: Was soll
als Kriterium der Erkennbarkeit dienen? In diesem Fall ist es einfach: Köppen hebt alle Zitate durch
kursive Blocksatzformatierung heraus.
Diese durchweg elegante Definition findet sich auch im Fall von Köppens Roman wieder: So
begegnet bspw. bei Vinzent der Begriff Montage immer im Zusammenhang mit der Verfahrens-
technik aber nie als Beschreibung für das Werk an sich.
34
Keineswegs ist die Montage aber auf
29 Helga Gallas: Ausarbeitung einer marxistischen Literaturtheorie im BPRS und die Rolle von Georg Lukács,
Hermann Luchterhand Verlag ,Berlin 1971, S.156.
30 Volker Hage, Collagen in der deutschen Literatur, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1984, S.66.
31 Vgl. Hans-Burkhard Schlichting: Historische Avantgarde und Gegenwartsliteratur. In: W. Martin Lüdke (Hg.):
Theorie der Avantgarde, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1976, S.209-251.
32 Volker Klotz: Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst, S.77. In: Ulrich Weisstein (Hg.): Literatur und
Bildende Kunst ­ Ein Handbuch zur Theorie und Praxis des komparatistischen Grenzgebietes, Erich-Schmidt-Verlag
, Berlin 1992, S. 180-196.
33 V. Hage: Collagen in der deutschen Literatur, S.69.
34 Vgl. Jutta Vinzent, Edlef Köppen ­ Schriftsteller zwischen den Fronten, iudicium Verlag, München 1997, S.184.
6

Zitatmontagen reduziert ­ sie bezeichnet immer das offensichtlich Konstruierte und Zusammen-
gesetzte. So lässt Vinzent das filmische Erzählen in Köppens Roman unter dem selben Begriff
laufen
35
.
Zusammenfassend soll unter den Begriffen also folgendes verstanden werden: Alle Dokumente in
Köppens Roman, die durch Formatierung eindeutig als solche für den Leser erkennbar sind, werden
in der Untersuchung als Zitate bezeichnet. Zitate können sowohl als Einzelzitate oder als
Zitatmontagen stehen. Die Verfahrenstechnik, mit der das Material aneinandergereiht, zusammen-
und gegenübergestellt wird, bezeichnen wir als Montage. Wir erkennen in der Untersuchung aber
auch an, dass der gesamte Roman, einschließlich seiner traditionell erzählten Passagen, von der
Montagetechnik inspiriert ist.
35 J. Vinzent: E. Köppen, S.192.
7

IV. Reisigers Weg zum Pazifismus
1. Die Ursachen des Krieges
Die Erzählung beginnt mit der offiziellen Kriegserklärung Kaiser Wilhelms sowie der dazu-
gehörigen Mobilmachung. Auffällig ist, dass in beiden Dokumenten mit keinem Wort von einem
Kriegsgrund oder Feinden Deutschlands die Rede ist: ,,Das Reichsgebiet, ausschließlich der
Königlich bayrischen Gebietsteile, wird hierdurch in den Kriegszustand erklärt"(S.9).
36
Nahezu
eigenmächtig und nur auf die Gesetzgebung gestützt, scheint der Kaiser in seiner Rolle als Monarch
über das Volk zu bestimmen: ,,Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von
Preußen usw. verordnen aufgrund des Artikels 68 [...]" (S.9); ,,Ich bestimme hiermit: [...]"(S.9).
In der Mobilmachung erfährt der Leser genaueres über den Rekrutierungsprozess: ,,Als
Kriegsfreiwillige können sich solche Leute bei einem Ersatztruppenteil melden, die keine
gesetzliche Verpflichtung zum Dienen haben, ferner jugendliche Personen zwischen 17 und 20
Jahren [...]"(S.10). Daraufhin wird der Protagonist auf ungewöhnliche Weise durch ein Dokument
vorgestellt: ,,Der Student Adolf Reisiger, geboren am 1.April 1893 zu Henthen, ist heute militärisch
auf seine Militärdiensttauglichkeit untersucht worden."(S.10). Durch den vorherigen Einbau der
Mobilmachungserklärung wird der Leser auf den Schluss gelenkt, dass es sich bei Reisiger um
einen Freiwilligen handeln muss.
Im darauffolgenden Dokument wird der Blick vom Persönlichen auf das Ganze gelenkt. In der
,,Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches" (S.10f.) stellt sich der vorher ungenannte
Kriegsgrund als ein geistiger heraus: ,,Jetzt steht unser Heer im Kampfe für Deutschlands Freiheit
und damit für alle Güter des Friedens und der Gesittung, nicht nur in Deutschland. Unser Glaube
ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche 'Militarismus'
erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen
Volkes."(S.11). Feinde bleiben bis auf England vorerst erneut ungenannt.
Scheinbar ohne Zusammenhang erscheint danach ein Brief von Reisigers Mutter, in dem die ersten
Stunden nach der Abreise ihres Sohnes zusammengefasst werden: ,,Ein Transportzug nach dem
anderen rollte nach dem Westen. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, wo diese großen
Massen von Soldaten, die Deutschland jetzt auf die Beine bringt, alle herkommen, und wie dieser
ganze Betrieb funktioniert." (S.12). Der Brief schließt mit dem Gedanken, dass der Krieg wohl
möglich schon vor Weihnachten zu Ende ist ­ eine Vorstellung wie sie tatsächlich bei Kriegsbeginn
in Deutschland vorherrschte.
36 Edlef Köppen: Heeresbericht, Nikol Verlagsgesellschaft, Hamburg 2012, S.9.
8

Wie ein Dokumentarfilm läuft diese erste größere Zitatmontage vor dem inneren Auge des Lesers
ab: ein dokumentarischer Erzähler übernimmt die erläuternde Rolle des Autors und beschreibt über
Zitatbruchstücke und persönliche Dokumente die ersten Monate des Krieges. Durch die
chronologische Anordnung der Dokumente entsteht der Eindruck eines eigenständigen Erzähl-
strangs: auf die Kriegserklärung folgt die Verkündung der Mobilmachung, auf die Mobilmachung
die Musterung des Protagonisten, auf die Musterung der Abtransport an die Front. Damit entfällt bei
Köppen auf clevere Art der übliche Beginn eines Kriegsromans. Die Dokumente geben sozusagen
bereits den emotionalen Hintergrund des Protagonisten und seine Veranlassung sich als
Kriegsfreiwilliger zu melden. Und wie ein Dokumentarfilm erzeugt diese Art des Erzählens den
Eindruck von historischer Wirklichkeit
37
. Dabei sind die Dokumente vom Autor natürlich nicht
wahllos ausgewählt, sondern sind mit Intention arrangiert. So stellt die Einführung des fiktiven
Protagonisten über ein scheinbar authentisches Dokument sicher, dass Kriegsfreiwillige außer-
literarisch existieren.
38
Aber auch innertextuell erfüllt das Dokument einen Sinn: die Figur wird dem
Leser zunächst über ein ,,Datenblatt" näher gebracht ­ nur die physischen Qualitäten Reisigers sind
von Belang. Egal welche Eigenschaften das Individuum Reisiger vor dem Beginn des Krieges
gehabt haben mag, für den Krieg ist lediglich die Absicherung seiner Existenz durch ein Dokument
von Interesse. Der Soldat wird damit seiner Individualität entzogen, sein ,,Befund" (S.2) gleicht
dem einer Ware. Auf diesen Schluss kommt auch auf Seite 13 der traditionelle Erzähler.
Der Brief der Mutter dient zur Darstellung der allgemeinen Kriegsbegeisterung in Deutschland und
zeigt wie selbst der einfache Bürger den Krieg unterstützte: ,,[...] ich muss ja andererseits
verstehen, dass es für Euch junge Menschen keine Ruhe gibt [...] (S.12) und: ,,Vater [...] lässt dir
sagen, dass er sehr stolz darauf ist, seinen Jungen nun auch im Feld zu wissen. (Ich hätte lieber, Du
könntest weiter studieren.)" (S.12)
Das Dokument wurde wohl auch von Köppen gewählt um einen Vergleich einzuführen, der sich von
hier an durch den gesamten Roman erstreckt: Der Krieg als Betrieb bzw. der Krieg als Maschine. Ein
Rädchen dieser Maschine ist der fiktive Charakter Adolf Reisiger, ,,dessen Name an Karl Philipp
Moritz' Anton Reiser, ,,der sein Leben als fremdbestimmtes Durcheinander erfährt", erinnert."
39
Fremdgesteuert wirkt auch Reisiger, der, dem wilhelminischen Erziehungsprogramm entsprechend,
sein Studium unterbricht um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden (S.10). Da Reisigers
Kriegserlebnisse starke autobiographische Züge tragen, kann wohl davon ausgegangen werden, dass
auch die hier einmontierten persönlichen Dokumente des ansonsten fiktiven Protagonisten authentisch
sind. Köppen, der 1914 an der Ludwig-Maximilian Universität in München studierte, unterbrach sein
37 Vgl. Jutta Vinzent: E. Köppen, S.117.
38 Vgl. Vinzent: Edlef Köppen, S.117.
39 J. Vinzent zitiert E. Schütz: Romane der Weimarer Republik. München 1986, Fink, S.215f. In: J. Vinzent: Edlef
Köppen, S.121.
9

Studium nach nur drei Semestern um sich als Kriegsfreiwilliger in Potsdam zu melden.
40
In einem
persönlichen Text schildert er seine Wahrnehmung der Mobilmachung: ,,Musik, Marschschritte. Das
dumpfe Schüttern der Geschütze. Wir standen auf der Straße. Da kamen sie. Gleich uns standen die
ganze Stadt hindurch bis weit hinaus zu den Verladehöfen die Menschen, Männer, Frauen, Kinder. Da
gingen die Ersten hinaus. Kann man beschreiben, wie sie hinausgingen? Kann man ausdrücken, wie
uns zu mute war, die wir ihnen das Geleit gaben?"
41
Geben die kaiserlichen Zitate zunächst keine Antwort auf die Frage nach einem Kriegsgrund oder
Feinden, übernimmt das Volk selbst die Beantwortung. Es wird klar warum die Fragen nicht
beantwortet werden mussten: Das Volk ist militarisiert; es will den Krieg. Entgegen der ersten
Feststellung handelt der Monarch nicht eigenmächtig ­ seine Handlungen sind nicht nur durch
Gesetz, sondern durch das Volk autorisiert. Wenn der Text das erste mal in die traditionelle
Erzählweise wechselt, werden diese Eindrucke auch exemplarisch durch Reisiger bestätigt. Seine
Vorstellung vom Krieg scheint durch die vorangegangenen Dokumente informiert: ,,Wo ist denn
nun der Krieg? [...] Sind wir jetzt an der Front? [...] Wo sind die Geschütze? Wo ist der Feind?"
(S.13). Wie die meisten seiner Altersgenossen ist auch er der patriotischen Gleichschaltung des
wilhelminischen Deutschland verfallen und sieht den militärischen Dienst als moralische Pflicht.
Gerade die kriegsenthusiastische Einstellung der Hochschullehrer legitimierte das Verhalten vieler
Studenten. Die Professoren sahen sich als Pädagogen, die zu ,,selbstentsagender Pflichttreue [...]
(erziehen) und [...] (der Jugend) das Selbstbewusstsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien
Mannes (verleihen), der sich willig dem Ganzen unterordnet" (S.11).
Zu Köppens einflussreichsten akademischen Lehrern gehörte Arthur Kutscher, an den er sich ein
Vierteljahrhundert nach seiner Studienzeit noch erinnerte:
,,Von all meinen Lehrern ist Artur Kutscher mir am greifbarsten in der Erinnerung geblieben. Es
mag daran liegen, dass er mir als blutjungen Studenten zum erstenmal in seiner ursprünglichen,
unakademischen und direkten Art nahe Beziehungen zur deutschen Dichtung vermittelte."
42
Kutscher war es auch, der während der Vorkriegsmonate und während der Julikrise 1914, den
jungen Studenten Köppen patriotisches Engagement nahelegte.
43
Nicht zufällig dürfte Köppen hier
also auf die unrühmliche Allianz aus Hochschullehrern eingegangen sein. Durch Kutscher wurden
dem literarisch ambitionierten Köppen zwar auch Kontakte zum Kreis zeitgenössischer Dichter
ermöglicht ­ gleichzeitig konnte aber auch sein Mentor dem nationalen Enthusiasmus nicht
entfliehen und machte sich somit an Köppens Kriegselend mitschuldig.
40 Vgl. Peter Salomon u. Siegmund Kopitzki: ,,Einen Tag lang nicht töten" Der Dichter Edlef Köppen (1893-1939).
Edition Isele, Eggingen 2004, S.4.
41 E. Köppen: Wie sie ins Feld zogen. In: Berliner Lokal Anzeiger, 52 Jg. 358, 01.08.1934. Zitiert nach: P. Salomon u.
S. Kopitzki: ,,Einen Tag lang nicht töten", S.5.
42 E. Köppen: Für Artur Kutscher. In : Herbert Günther (Hg.): Für Artur Kutscher. Ein Buch des Dankes. Düsseldorf
1938, S.241. Zitiert nach: P. Salomon u. S. Kopitzki: ,,Einen Tag lang nicht töten", S.4.
43 Vgl. Peter Salomon u. Siegmund Kopitzki: ,,Einen Tag lang nicht töten", S.4.
10

In diesen Punkten unterscheidet sich Köppen stark von anderen Zeitgenossen, die die Untersuchung
der Ursachen und Voraussetzungen des Krieges zu Gunsten der Darstellung von Einzelschicksalen
vermieden.
44
,,Remarques Protagonist lehnt sogar ausdrücklich jede Auseinandersetzung mit den
Ursachen und dem Sinn des Krieges ab."
45
Die verstärkte Ausprägung dieser Motive in Köppens Roman mag am gesellschaftlichen Umfeld
liegen, in dem das Buch entstand. Bei seiner Veröffentlichung 1930 konnte der pazifistische Inhalt
des Romans nämlich bereits als anachronistisch gelten
46
: Die große Welle pazifistischer Literatur
hatte bereits zwei Jahre zuvor mit Remarque ihren Höhepunkt erreicht. Derart überzeugend erschien
diese Bewegung, dass sich eine neue nationale, dem Krieg positiv gegenübergestellte Bewegung als
Reaktion auf den ,,Fall Remarque" bildete
47
. Der Krieg wurde von dieser Gruppe als gemeinschafts-
und identitätsbildendes Ereignis verstanden.
48
Autoren wie Remarque und Köppen galten als die,
,,die nicht das echte Fronterlebnis hatten, d.h. nicht derselben politischen Anschauung huldigten."
49
Köppen stand nicht nur dieser Bewegung sondern der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung
kritisch gegenüber, die ihn zu sehr an den Vorabend des Ersten Weltkrieges erinnerte: ,,Und wenn
man es sich heute überlegt, dass vielleicht neunzig Hundertstel eines Landes, das durch den Krieg
zugrunde gerichtet ist, immer noch an den Krieg wie an ein Mirakel glauben, und dass das Wort
Pazifist ein schlimmes Schimpfwort für all die ist, als [...] nun sagen wir mal, das Wort: General."
50
Damit erkennt Köppen, dass die Voraussetzungen des Krieges nicht alleine in der Propaganda
liegen ­ denn diese ist auch von den verwurzelten Einstellungen und Vorurteilen der Menschen
abhängig
51
. Die Voraussetzungen liegen viel mehr im wilhelminisch geprägten Bewusstsein der
Bürger begründet. Es ist daher nicht verwunderlich, warum Köppen mit der Beschreibung dieses
Bewusstseins beginnt.
Speziell zum soldatischen Bewusstsein gehört ein Kanon aus ideologisch gefärbten Begriffen, die
den Soldaten bestimmte Vorstellungen und Erwartungen einimpfen, die ihn wiederum erst im Krieg
funktionieren lassen. Für Reisiger sind es drei Begriffe, die während seiner Dienstzeit langsam mit
Erfahrungen gefüllt werden: ,,Feind", ,,Front" und ,,Kameradschaft".
44 Vgl. J. Vinzent: E. Köppen, S.119.
45 Ebend., S.119 und Vgl. Michael Gollbach: Die Wiederkehr des Krieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der
späten zwanziger Jahre (=Theorie, Kritik, Geschichte, Bd.19). Scriptor, Kronberg 1979, S.60; S.238.
46 Vgl. J. Vinzent: Edlef Köppen, S:114.
47 Vgl. Vinzent: Edlef Köppen, S.114. Siehe auch Vgl. Roman Schafnitzel: Die vergessene Collage des Ersten
Weltkrieges, S.324. In: Thomas F. Schneider (Hg.): Von Richthofen bis Remarque: deutschsprachige Prosa zum I.
Weltkrieg. Amsterdam 2003, Rodopi, S.319-342.
48 Vgl. Roman Schafnitzel: Die vergessene Collage des Ersten Weltkrieges, S.321.
49 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen
Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München 1962, Nymphenburger Verl.-Handlung, S.115.
50 E. Köppen: Rez. zu Georg Hermann: Träume der Ellen Stein. In: Die Literarische Welt 10 (1929), S.6. Zitiert nach:
J. Vinzent: E. Köppen,S.114.
51 Vgl. Klaus Vondung: Propaganda oder Sinndeutung, S.16. In: Klaus Vondung (Hg.): Kriegserlebnis: der Erste
Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Vandenhoeck u. Ruprecht,
Göttingen 1980, S.11-37.
11

2. Die ,,Kameradschaft vor dem Feind"
Zuerst ist es die ,,Kameradschaft vor dem Feind" (S.14) von der Reisiger eine genauere Vorstellung
vermittelt bekommt. Von den vielen ,,Artikel[n] der Kriegsberichterstatter" weiß er nämlich vom
,,unverwüstlichen Humor unserer braven Feldgrauen" (S.29). In der Ausbildung hat er gelernt,
,,dass der Soldat vor dem Feind mindestens Rock und Stiefel anbehält und auch das Koppel nicht
abschnallen darf." (S.17) Aus den Dienstvorschriften weiß er, ,,dass man am Feind nicht singen,
nicht sprechen, nicht einmal rauchen darf." (S.25). Bereits bei der Verteilung der Soldaten auf die
einzelnen Kolonnen stellt sich jedoch Enttäuschung ein: Als Freiwilliger hat Reisiger auf die
Achtung und den Respekt seiner Kameraden gehofft: ,,Ich habe mich doch freiwillig hierher
gemeldet." (S.13). Stattdessen fühlt er sich ,,ganz allein", ,,viel zu jung und gänzlich hilflos"
(S.14). Wie als Antwort auf Reisigers Zweifel wird im folgenden ein patriotisches Dokument in den
Text montiert. Aus der Berliner Tageszeitung wird Emil Ludwigs ,,Der moralische Gewinn" zitiert:
,,... aber aus Zweifel und Missbehagen aufbrechend ein Gefühl männlicher Abwehr, schlicht, nobel,
lautlos beinahe, kühn ­ im höchsten Grade moralisch scheint mir der Antrieb zu sein, der dies
schwer bewegliche Volk in solch unerhörte Bewegung trieb [...]." (S.14f)
Entsprechend wird das Zitat in der epischen Erzählung von Köppen in sein Gegenteil verkehrt: Der
erste Kamerad auf den Reisiger trifft, sieht den Krieg nicht als kühnes Unternehmen, sondern ist
lediglich froh von Frau und Kind wegzukommen (S.15). Kommt Reisiger dann schließlich in der
Kaserne an, bemühen sich die Kameraden nicht einmal von ihrem Abendbrottisch aufzustehen und
den Neuankömmling zu begrüßen (S.15). Vom im Zitat angesprochenen Missbehagen ist keine Spur:
Zeitler versichert Reisiger, dass hier schon ein ,,ganz anständiges Leben" (S.15) sei. Dann in der
Kaserne, beim Teilen des Abendbrots: ,,So, nun hau feste rein, wir sind ja hier nicht bei armen Leuten
[...]" (S.16). Der ,,männliche[n] Abwehr" (S.15) werden gestörte Ehen und misogyne Äußerungen
gegenübergestellt: ,,Er habe eine Zanktippe zur Frau. Ein dolles Biest. Einmal täglich müsse sie
Prügel haben [...]" (S.17). Beinahe komisch wirkt hier das Gegenüberstellen von Dokument und
Wirklichkeit: Das ,,noble, [...] lautlos[e]" (S.15) Volk wird nicht vom Krieg in Bewegung getrieben,
sondern sobald ein ,,großes fettes Stück Schweinefleisch" (S.16) auf den Tisch gelegt wird: ,,Da
bekam die stumme Gesellschaft plötzlich Bewegung." (S.16). Mit Ratlosigkeit bleibt Reisiger nichts
anderes übrig als festzustellen, dass sich hier niemand an die Vorschriften hält (S.18).
Dabei ist es die Kameradschaft, die als einzig positiver Eindruck aus dem Krieg bestehen bleibt.
Bereits beim Teilen des ersten Abendbrots ,,taute [Reisiger] auf vor dieser Freundlichkeit" (S.16).
Später im Brief an seine Eltern bestätigt er, dass der Begriff Kameradschaft genauso gelebt wird wie
er propagiert wurde: ,,Nette Kameraden (ja, es gibt wirklich so etwas; alles wie eine große Familie,
auch hier an der Front)" (S.30). Die Kameraden sind an der Front das, was die Familie in der
12

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2013
ISBN (PDF)
9783958206557
ISBN (Paperback)
9783958201552
Dateigröße
767 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Erster Weltkrieg Remarque Weimarer Republik Nachkriegszeit

Autor

Robert Wolf wurde 1989 in Stendal geboren. Sein Studium der Germanistik und Europäischen Geschichte an der Otto-von-Guericke Universität in Magdeburg schloss er im Jahre 2013 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts ab. Bereits während des Studiums zeigte der Autor großes Interesse an deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Die Vorbereitung einer Ausstellung zum Gedenken des Ersten Weltkrieges im Literaturhaus Magdeburg motivierte ihn, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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