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Organisierte Interessenvertretung in Deutschland und Österreich: Die Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen seit den 1990er Jahren im Vergleich

©2012 Bachelorarbeit 59 Seiten

Zusammenfassung

Die spezifische Untersuchung der österreichischen und deutschen Verbandssysteme mag zunächst durch die Ähnlichkeiten hinsichtlich ihrer institutionellen Ordnung, Geschichte und Kultur nicht sinnvoll erscheinen, jedoch können die Unterschiede im Detail gerade im Bereich der Arbeitsbeziehungen mit Schwerpunkt auf den Gewerkschaften hervorragend durch das ‘Most Similar Case’-Design herausgearbeitet werden.
Aus Gründen der historischen Entwicklung ist es nahliegend, die deutsche Wiedervereinigung als Startpunkt der Untersuchung zu wählen, da die 1990er Jahre sowohl in Deutschland als auch in Österreich bedeutende Veränderungen brachten. Beide Staaten verfügen über einen großen Gewerkschaftsbund, der jedoch in Österreich stärker als in Deutschland selbst tätig und weniger bloßer Dachverband ist. Darüber hinaus werden die Unterschiede im Grad der Inkorporation der Institutionen offengelegt, in dem Österreich ebenfalls eine große Bandbreite an Einrichtungen zu bieten hat. Die Auswirkungen auf die Phänomene der Arbeitsbeziehungen werden beleuchtet und gegenübergestellt, wobei Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und vor allem auch in sehr verschiedenen
Größenordnungen auftreten. Dabei ist die gesellschaftliche Partizipation in Verbänden
und Vereinen, wie für koordinierte Marktwirtschaften ­ wozu beide Länder zählen ­
üblich, sowohl in Deutschland als auch in Österreich relativ hoch.
2
Doch gerade die
Tatsache, dass hier zwei Länder auf den ersten Blick sehr ähnliche Muster aufweisen,
macht den Vergleich zu einer spannenden Analyse der vielen Details der beiden
Verbändesysteme, denn hinter all den Gemeinsamkeiten verbergen sich zahlreiche, teils
tiefgreifende Unterschiede.
3
Die Analyse als most similar case design macht eine
Betrachtung spezifischer Details möglich, was sich gerade bei der Untersuchung eines
komplexen Feldes wie der organisierten Interessenvertretung anbietet.
Insbesondere die institutionellen Unterschiede der beiden Systeme und die
Charakteristik der Akteure, aber auch deren unmittelbare Auswirkungen auf das
Verhältnis zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Staat sowie die Praxis der
Arbeitsbeziehungen soll Kern der folgenden Ausarbeitung sein.
Um eine sinnvolle Untersuchung zu ermöglichen bietet es sich an, den zeitlichen
Untersuchungsrahmen so zu setzen, dass mit der deutschen Wiedervereinigung in die
Beobachtung eingestiegen wird. Für die Landschaft der organisierten Interessen in
Deutschland war der Anschluss des Gebietes und der Bewohner der ehemaligen DDR
ein einschneidendes Ereignis, schließlich trafen hier zwei gänzlich unterschiedlich
strukturierte Systeme zusammen und mussten fortan unter einem Dach zusammen-
arbeiten. Die Verbandsentwicklung der Bundesrepublik wurde in vielerlei Hinsicht
durch die deutsche Einheit beeinflusst und verändert. Hinzu kamen Arbeitsmarkt- und
Wirtschaftsreformen, die für die Arbeitsbeziehungen natürlich eine Rolle spielen. Doch
auch für Österreichs Gewerkschaften ­ und darüber hinaus für die gesamten
Arbeitsbeziehungen des Landes ­ sind die 1990er Jahre Zeiten der Veränderung
gewesen. Strukturelle Wandlungen und eine Internationalisierung, symbolisch am
österreichischen EU-Beitritt festzumachen, waren prägend, dazu kam eine Neu-
ausrichtung der politischen Rahmenbedingungen. All diese Gründe sprechen dafür, dass
die spezifische Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre einen ausgesprochen
interessanten Betrachtungszeitraum darstellen.
2 Weßels 2007: S. 89 f.
3 Abromeit/Stoiber 2006: S. 137
4

Um eine sinnvolle und nachvollziehbare Untersuchung anzustellen sollen hier zu
Beginn unterschiedliche Erscheinungen und Theorien der Verbändeforschung erörtert
werden. In der Folge werden die beiden Fälle detailliert nachvollzogen, insbesondere
hinsichtlich der Akteure der Arbeitsbeziehungen und der wichtigsten Phänomene des
Feldes, dabei steht deren Bedeutung und Entwicklung im Betrachtungszeitraum
folgerichtig im Zentrum. Schließlich ist es Ziel, neben bestimmten Gemeinsamkeiten
auch Unterschiede zu identifizieren, die sich unter der scheinbaren Ähnlichkeit der
Systeme verbergen. Abschließend soll dann einen Ausblick gegeben werden, wohin sich
die beiden Fälle in Ihrer weiteren Entwicklung bewegen dürften.
5

2. Theoretische Konzepte
Bevor nun im Folgenden die Verbandsstrukturen und die Formen der organisierten
Interessenvertretung in Deutschland und Österreich näher untersucht und gegen-
übergestellt werden scheint es unerlässlich, zunächst einen Überblick über grundlegende
Modelle und Systeme der Interessenvertretung, also die verschiedenen Theorien der
Interessenvermittlung, zu verschaffen. Die einzelnen Ansätze unterscheiden sich hier
vor allem im Hinblick auf die Rolle, welche die Verbände und Interessengruppen im
jeweiligen Prozess der Interessenartikulation und -durchsetzung spielen.
Dabei sei vorweg gesagt, dass die verschiedenen Formen durchaus keine absoluten
Gegensätze darstellen, sondern sich theoretisch und praktisch mitunter gegenseitig
ergänzen.
2.1 Pluralismus
Um Pluralismus in Bezug auf die organisierte Interessenvertretung zu definieren, bedarf
es zunächst einer begrifflichen Klärung. Nimmt man hierzu die philosophische Be-
trachtung von Pluralismus zur Hand, so bekommt man ein wahrnehmbares Weltbild mit
einer Wirklichkeit aus ,,vielen einzelnen Fakten, Dingen, Ideen (...), die in sehr
unterschiedlicher Weise zueinander in Beziehung stehen bzw. gesetzt werden können"
4
beschrieben.
Daran lässt sich die politikwissenschaftliche Definition nahtlos anschließen, bedeutet
Pluralismus bzw. ein pluralistisches System in dieser Disziplin doch in erster Linie eine
soziale Wirklichkeit, in der eine Vielzahl unterschiedlichster Interessen nebeneinander
existieren und miteinander in Konkurrenz stehen. Diese Interessen organisieren sich in
Form von Verbänden, welche bemüht sind, Einfluss auf politische Entscheidungen zu
nehmen. Alle Belange, die in der Gesellschaft vorhanden sind, sollen also durch eine
4 Schubert/Klein: Das Politiklexikon, Pluralismus;
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18012/pluralismus
6

Interessengruppe vertreten werden.
5
Die pluralistische Idee stammt insbesondere aus der
amerikanischen Politikwissenschaft, prägend waren an dieser Stelle die beiden
Politikwissenschaftler Arthur F. Bentley und David B. Truman.
6
Eine besonders wichtige Voraussetzung im Pluralismus ist die Idee, dass sämtliche
Interessengruppen ,,selbständig und autonom ihre Ziele innerhalb des politischen Systems"
7
verfolgen, das heißt, sie sind unabhängig von Staat und Regierung. Grundlage ist dabei stets
die Annahme, dass sämtliche Interessen die gleichen Möglichkeiten haben, es also keine
unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten für verschieden große oder verschieden gut
organisierte Gruppen gibt. Auch die Bedeutsamkeit der Interessen soll für den letzt-
endlichen Einfluss keine Rolle spielen.
8
In der Theorie ist eine Übermacht eines einzelnen
Interesses deshalb nicht möglich, da sich stets eine Gegenmacht, ein gegensätzliches
Interesse, das organisiert artikuliert wird, herausbildet, wodurch sich alle Verbände in ihrem
Einfluss gegenseitig begrenzen.
9
Gerade auch aus diesem Grund muss die Gründung von
Verbänden in pluralistischen Systemen stets frei sein,
10
festgehalten ist dieser Grundsatz
etwa auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Artikel 9 des Grundgesetzes
schützt ganz ausdrücklich die Freiheit, ,,Vereine und Gesellschaften zu bilden"
11
,
insbesondere zum Zwecke der Vertretung von Interessen, wie aus Art. 9 Abs. 3 hervor geht.
Gesetzlicher Schutz für pluralistische Strukturen, wie im oben genannten Beispiel des
Grundgesetzes, dienen dem Schutz der ,,Verfahrensregeln (...) und dass übermächtige
Interessen nicht den Wettbewerb der Interessen dominieren."
12
Die Idee des Pluralismus
wendet sich also ab von der Vorstellung, der Staat stünde den Bürgern gegenüber, wie sie
in älteren Staatstheorien, etwa dem ,,preußisch-deutschen Staatsdenken"
13
üblich war. Im
Pluralismus, so die Erkenntnis, entsteht der Staat und staatliches Handeln also explizit aus
der Gesellschaft heraus, die über die Interessenartikulation politische Entscheidungen
beeinflussen kann.
5 Rieger 2008: S. 407 - 413
6 Kaiser 2006: S. 34
7 Schubert/Klein: Das Politiklexikon; Stichwort: Pluralismus;
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18012/pluralismus
8 Hofmann/Dose/Wolf 2007: S.129 f.
9 Schubert/Klein: Das Politiklexikon; Stichwort: Pluralismus;
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18012/pluralismus
10 Hofmann/Dose/Wolf 2007: S.130
11 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 9 (1)
12 Hofmann/Dose/Wolf 2007: S.130 f.
13 Leibholz 1974: S. 98
7

In den 1960er Jahren brachte in Deutschland vor allem Ernst Fraenkel die Idee des
Neopluralismus auf. Diese Theorie beschreibt einen Pluralismus, der nicht länger davon
ausgeht, dass mächtige Interessengruppen ,,sich den auf Gemeinwohl bedachten Staat
zur Beute machen könnten"
14
, allerdings auch erkennt, dass kein Wettstreit zweier
gegenläufiger Interessen vorliegt, der letztendlich zum Gemeinwohl führt. Stattdessen
beschreibt Fraenkel ein Kräfteparallelogramm, also ein Ziehen in unterschiedliche
Richtungen, wodurch die ideale (mittlere) Lösung gefunden wird. Hier tritt die Politik
auf den Plan, die jenes Gemeinwohl, aus dem Streit um Durchsetzung verschiedener
Kräfte herausgebildet, erkennen und politisch umsetzen soll. Der Staat ist hierbei also
für die Regelsetzung des Wettstreits um Durchsetzung der verbandsspezifischen
Interessen zuständig.
15
Dazu ist in Fraenkels Konzept eine Symbiose zwischen den
politischen Parteien und den Verbänden unabdingbar.
16
Kritik am Konzept der pluralistischen Gesellschaft kommt vor allem deshalb, weil
empirische Studien eine Asymmetrie in der Interessendurchsetzung feststellen. Damit ist
gemeint, dass einige Interessen bessere Durchsetzungsmöglichkeiten besitzen als
andere. Dazu werden vor allem Interessen gezählt, die kaum verbandlich organisiert
sind oder sich organisieren lassen und deswegen bereits von Grund auf schlechtere
Chancen haben, Gehör zu finden, aber auch neu auftretende Interessen haben es
schwerer, sich in einem etablierten System durchzusetzen. Darüber hinaus ist fraglich,
ob ein tatsächliches Gleichgewicht zwischen den Interessengruppen besteht, da einige
Interessen deutlich konfliktfähiger oder auch einfach finanzstärker sind, als andere.
17
Beispielhaft für letzteres ist etwa die ,,Überlegenheit der Unternehmensverbände
gegenüber den Gewerkschaften", die damit auch ,,über mehr Macht verfügen"
18
.
14 Weßels 2000: http://www.bpb.de/apuz/25543/die-entwicklung-des-deutschen-korporatismus?p=all
15 Hofmann/Dose/Wolf 2007: S. 130 f. & Weßels 2000: http://www.bpb.de/apuz/25543/die-entwicklung-
des-deutschen-korporatismus?p=all
16 Kaiser 2006: S. 34
17 Hofmann/Dose/Wolf 2007: S.131 & Kaiser 2006: S. 26 ff.
18 Kaiser 2006: S. 28
8

2.2 Formen des Korporatismus
Neben der Idee des Pluralismus in der organisieren Interessenvertretung existieren aber
noch weitere Ansätze, nämlich korporatistische.
Der Begriff Korporatismus stammt vom spätlateinischen Wort incorporare ab, was so
viel bedeutet wie verkörpern oder einverleiben.
19
Im hier betrachteten Zusammenhang
ist unter Inkorporieren am ehesten ein Einbinden zu verstehen, nämlich das gezielte
Beteiligen von Interessenverbänden in die politische Entscheidungsfindung.
20
Als einer
der wichtigsten Theoretiker, der sich mit dem Korporatismus als Konzept befasst und
dieses geprägt hat, zählt zweifelsohne der amerikanische Politikwissenschaftler Philippe
C. Schmitter.
Da jedoch hinsichtlich dieser Einbeziehung unterschiedliche Möglichkeiten bestehen,
soll der Korporatismus hier sinnvollerweise differenziert betrachtet werden, nämlich in
seiner klassischen, staatlich-autoritären Form sowie in der Erscheinung als Neo-
korporatismus.
2.2.1 (staatlich-autoritärer) Korporatismus
Der Korporatismus in Bezug auf die Interessenvermittlungstheorie ist eine Idee, die ihre
Herkunft nicht zuletzt in autoritären Regimen hat. Insbesondere in Mussolinis Italien
wurde dieses System unter der Bezeichnung stato corporativo umgesetzt.
21
Es handelt
sich bei diesem autoritären Korporatismus um eine staatlich erzwungene und
organisierte Institutionalisierung der Interessenvertretung, bei der zwar eine Re-
präsentation der Interessen möglich ist, diese aber zeitgleich von der Regierung
begrenzt werden können.
22
Da diese extreme Form der Inkorporation von Verbänden in (autoritär-)staatliches
Handeln aber in der weiteren Untersuchung keine Rolle spielen wird, soll dieses
Konzept hier nicht detaillierter ausgebreitet werden. Wesentliche wichtiger ­ und
19 Duden: Stichwort ,,inkorporieren": http://www.duden.de/rechtschreibung/inkorporieren
20 Hofmann/Dose/Wolf 2007: S. 131 f.
21 Von Alemann 2000: http://www.bpb.de/apuz/25539/vom-korporatismus-zum-lobbyismus?p=all
22 Linz 2007: S. 33
9

deshalb hier gesondert behandelt ­ ist eine Theorie, die sich aus der Idee einer
staatlichen Inkorporierung ableitet unter dem Begriff Neokorporatismus bekannt
geworden ist.
2.2.2 Neokorporatismus
Wie oben bereits erwähnt, stehen sich die hier vorgestellten verschiedenen Konzepte
nicht unbedingt strikt gegenläufig gegenüber sondern beschreiben lediglich andere
Ansatzweisen. Sichtbar ist das vor allem im Falle des Neokorporatismus, der in der
Praxis häufig als spezielle Ausprägung innerhalb grundsätzlich (neo)pluralistischer
Systeme zu sehen ist. Schließlich ist in neokorporatistischen Systemen der
Interessenvermittlung durchaus eine große Bandbreite an Verbänden vorhanden, welche
ausdrücklich auch frei gegründet wurden und in ihrer Arbeit prinzipiell unabhängig
sind. Allerdings unterstellt die Idee des Neokorporatismus von Anfang an, dass
bestimmte Verbände und Interessengruppen eine bessere Möglichkeit zur
Einflussnahme haben, als andere.
23
Hier unterscheidet sich die Theorie also vom
Pluralismus, da das Problem der unterschiedlich großen Konflikt- und Organisations-
fähigkeit hier Bestandteil der Theorie ist.
Unter den Theoretikern wird jedoch verbreitet davon ausgegangen, dass ein neo-
korporatistisches Modell, das in Reinform in der Praxis auftreten würde, nicht existiert.
Stattdessen finden sich politische Systeme, die ,,mehr oder weniger ausgeprägte
korporatistische Strukturen"
24
aufweisen. Häufig ist auch deshalb eher die Rede von
korporatistischen Ansätzen bzw. Konzepten, die in einzelnen Systemen unterschiedlich
stark und in drei verschiedenen Dimensionen, nämlich politischen, sozialen und
ökonomischen, auftreten.
25
Anstelle grundsätzlich von dem Neokorporatismus zu sprechen wird, um der komplexen
Praxis in der Theorie gerecht zu werden, oftmals zwischen Makro-, Meso-, und
Mikrokorporatismus unterschieden.
26
Während makrokorporatistische Muster vor allem
ganze Volkswirtschaften betreffen, beschränken sich mesokorporatistische Erscheinun-
23 Hofmann/Dose/Wolf 2007: S. 132
24 Kaiser 2006: S. 36
25 Kaiser 2006: S. 36 f.
26 Von Alemann 2000: http://www.bpb.de/apuz/25539/vom-korporatismus-zum-lobbyismus?p=all
10

gen auf einzelne Wirtschaftsfelder. Der Mikrokorporatismus beschreibt dagegen die
inkorporierte Interessenvertretung auf der untersten Ebene, etwa das Verhältnis
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in einzelnen Unternehmen.
27
Im Unterschied zum reinen Pluralismus stellt das Konzept des Neokorporatismus
keineswegs die, wie Bernhard Weßels es nennt, Einbahnstraße der Staat-Verbände-
Beziehung dar.
28
Neokorporatistische Ansätze gehen davon aus, dass Verbände auf der
einen Seite die Interessen und Ansprüche ihrer Mitglieder ausarbeiten und vertreten, im
Gegenzug ist es jedoch auch eine Aufgabe der inkorporierten Interessenverbände,
Verhandlungsergebnisse und Kompromisse in den eigenen Reihen letztendlich
durchzusetzen. Die Verbände agieren im Neokorporatismus also insbesondere als
Mittler zwischen den Interessen bzw. Forderungen der Mitglieder und dem Staat (im
Falle des Makrokorporatismus) oder dem entsprechenden Gegenüber auf der
Meso-/Mikroebene,.
29
Damit ist der Interessenverband in neokorporatistischen Strukturen auch ein Akteur, der
eine Integrationsfunktion übernimmt und den Staat damit in seiner Aufgabenerfüllung
unterstützt. Winter und Willems bezeichnen Interessenverbände in diesem Zusammen-
hang auch als ,,intermediäre Organisationen"
30
zwischen Politik und Gesellschaft. Im
Gegenzug dazu erhalten Verbandsvertreter Zugang zu politischen Entscheidungen, bis
hin zu relativ unmittelbaren Einflussmöglichkeiten auf verschiedene Phasen des
Gesetzgebungsverfahrens.
31
Gepaart mit verbandsspezifischen (Partikular)interessen
fließt durch diese Inkorporation auch Fachwissen in den legislativen Prozess ein. Hier
wird durch korporatistische Modelle institutionalisiert, was in der pluralistisch-liberalen
Theorie in Form des klassischen Lobbyismus stattfindet.
27 Andersen/Woyke 2003: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland;
Stichwort: Neokorporatismus; http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-
system/40335/neokorporatismus?p=all
28 Weßels 2000: http://www.bpb.de/apuz/25543/die-entwicklung-des-deutschen-korporatismus?p=all
29 Andersen/Woyke 2003: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland;
Stichwort: Neokorporatismus; http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-
system/40335/neokorporatismus?p=all
30 Winter/Willems 2007: S. 13
31 Kaiser 2006: S. 29-30
11

3. Der Fall Deutschland
Für die weitere Untersuchung der Interessenvertretung, insbesondere der Gewerk-
schaften, soll hier nur zunächst das deutsche Verbändesystem, speziell die Arbeits-
beziehungen, erläutert werden. Dazu werden zu Beginn die unterschiedlichen Akteure
erläutert, wobei sinnvollerweise der Schwerpunkt bei den Gewerkschaften liegen wird.
Nichtsdestotrotz sollen die Strukturen der Arbeitgeberverbände beschrieben werden.
Insbesondere der Deutsche Gewerkschaftsbund und eine Auswahl dort organisierter
Fachgewerkschaften soll in der Folge genauer betrachtet und auf die spezifische Rolle
in den Arbeitsbeziehungen untersucht werden. Ebenfalls wird eine Einordnung des
deutschen Systems von Verbänden und Staat erfolgen sowie in diesem Zusammenhang
eine Reihe von korporatistischen Mustern in der Bundesrepublik vorgestellt werden.
3.1 Allgemeine Akteure der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen
In Deutschland finden sich zahllose Interessenverbände und Lobbygruppen, die bemüht
sind, die Interessen ihrer Mitglieder in den politischen Prozess einzubringen oder sich
im Sinne des vermeintlichen Gemeinwohls zu engagieren, hierzu zählen also auch
Umweltschutz- oder Wohlfahrtsverbände. Insgesamt kann von ca. 4.000 Verbänden in
der Bundesrepublik ausgegangen werden, also einer Anzahl und Vielfalt, die unmöglich
in ihrer Gesamtheit erfasst und Zusammengefasst beschrieben werden kann.
32
Für die
Betrachtung der Arbeitsbeziehungen genügt es, das Feld von Interessenvertretungen aus
dem Bereich der Ökonomie näher zu beleuchten. Dazu zählen immerhin rund 1.000
Verbände, welche sich im Jahr 1994 in der vom Deutschen Bundestag geführten
Lobbyliste registriert hatten.
33
Für die Arbeitsbeziehungen eine wesentliche Rolle
spielen dabei in Deutschland zuvorderst die Gewerkschaften als wichtigste Vertreter der
Arbeitnehmer und die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände als Organisationen der
32 Reutter 2012: S. 139
33 Reutter 2003: S. 83
12

Kapitalseite. Auf diese soll im Folgenden eingegangen werden, um später eventuelle
deutsche Besonderheiten herausstellen zu können. Die beiden anderen Akteure der
traditionellen großen vier in Deutschland, die Kirchen und Bauernvereinigungen,
können hier vor allem wegen ihres inzwischen relativ geringen Einflusses auf die
Arbeitsbeziehungen, außen vor gelassen werden.
34
3.1.1 Unternehmerverbände
Unternehmerverbände vertreten im System der organisierten Interessen in der
Bundesrepublik Deutschland die Belange der Wirtschaft, also der Arbeitgeberseite.
Allerdings sind die Unternehmerverbände keineswegs einheitliche Organisationen,
welche sich den umfangreichen Interessen im Ganzen annehmen, vielmehr findet man
in Deutschland eine starke Ausdifferenzierung der Arbeitsbereiche vor.
Auffällig ist hier zunächst die Organisationsform der 80 regionalen Industrie- und
Handelskammern (IHK)
35
, welche als öffentlich-rechtlich gestützte Einrichtungen
36
eindeutig den umfassendsten Charakter unter den Unternehmerverbänden aufweisen.
Sämtliche Unternehmen der Wirtschaft, freie Berufsgruppen, aber auch Betriebe aus
Handwerk und Landwirtschaft sind zwangsweise Mitglied der jeweiligen regionalen
Kammer. Überregional organisieren sich die Industrie- und Handelskammern in 16
Landeskammern, die sich den deutschen Bundesländern entsprechend zugeordnen Diese
Zusammenschlüsse auf Landesebene nehmen zusammen mit den regionalen Kammern
zahlreiche Aufgaben in Feldern wie der Berufsausbildung und lokaler Interessen-
vertretung wahr. Die einzelnen IHKs sind ­ im Gegensatz zu den Landesorganisationen
­ im DIHK, dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag, der bis zum Jahr 2001
den Namen Deutscher Industrie- und Handelstag (DIHT)
37
trug, zusammengefasst.
38
In
seinem Selbstverständnis ist der DIHK die Vertretungsinstanz aller selbstständigen
IHKs auf Bundesebene, aber auch in der Öffentlichkeit sowie in gerichtlichen Fragen.
Die Hauptorgane der DIHK sind die Vollversammlung aller Mitgliedskammern als
34 Schmidt 2008: S. 113 - 123
35 Abweichend von Reutter (2012) existieren derzeit in Deutschland 80 unabhängige IHKs, welche sich
auf 16 Landesorganisationen aufteilen. Die ergibt sich aus aktuellen Angaben auf der Internetseite
des DIHK, abrufbar unter: http://www.dihk.de/wir-ueber-uns/wer-wir-sind/ihk
36 Schmidt 2008: S. 62
37 Schmidt 2008: S. 113
38 Reutter 2012: S. 141
13

höchster Instanz, einem Präsidenten sowie einer Vorstandschaft.
39
Besondere Wichtig-
keit kommt den Industrie- und Handelskammern nicht zuletzt auch deshalb zu, da sie
öffentlich-rechtliche Aufgaben übertragen bekommen haben und wahrnehmen, also mit
,,partiell staatlichen Funktionen"
40
ausgestattet sind. Dazu zählen neben der Über-
wachung der Berufsausbildung aber auch das Abliefern von Stellungnahmen zur
wirtschaftlichen Situation in der entsprechenden Region gegenüber den staatlichen
Stellen.
41
Vor allem stellen die IHKs in der Praxis jedoch eine wichtige Vertretung der
kleinen und mittelständischen Unternehmen dar.
42
Neben den Kammern und den für die unmittelbaren Arbeitsbeziehungen meist weniger
relevanten Statusverbänden finden sich zumindest zwei weitere wichtige Verbandstypen
auf der Seite der Wirtschaft. Die Mitgliedschaft in diesen erfolgt, im Unterschied zu den
Kammern, freiwillig.
Wirtschaftspolitische Anliegen der Unternehmen werden in Deutschland von sogenann-
ten Wirtschaftsverbänden bzw. deren Spitzenorganisationen vertreten. Hier wäre, neben
weiteren kleinen, vor allem der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zu
nennen, die Dachorganisation der Wirtschaftsverbände, der industrielle und wirt-
schaftliche Interessen seiner Mitgliedsorganisationen ­ 100.000 Unternehmen, verteilt
auf 38
43
Branchenverbänden aus 15 Landesvertretungen ­ gegenüber der Politik sowie
der Öffentlichkeit vertritt. Die verbandsinterne Struktur des BDI beinhaltet eine
Versammlung aller organisierten Mitgliedsverbände, diese hat das Haushalts- sowie das
Wahlrecht für die (Vize-)Präsidenten. Die eigentliche Macht im Verband liegt allerdings
nicht bei der Vorstandschaft aus Mitgliedsvertretern und Präsidium sondern, so
beschreibt es Reutter, ,,bei Präsidenten, Vizepräsidenten, hauptamtlicher Geschäfts-
führung und Präsidium"
44
, jedoch wird der Wirtschaftsverband häufig von einigen Groß-
unternehmen dominiert.
45
39 DIHK: Wer wir sind. DIHK http://www.dihk.de/wir-ueber-uns/wer-wir-sind/dihk
40 Andersen/Woyke 2003: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland;
Stichwort: Unternehmerverbände; http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-
politisches-system/40393/unternehmerverbaende?p=all
41 Schmidt 2008: S. 62
42 Reutter 2012: S. 141
43 Abweichend von Reutter (2012) vertritt der BDI die Interessen von 38 Branchenverbänden,
nachzulesen unter: http://www.bdi.eu/Mandat.htm
44 Reutter: S. 140
45 Reutter: S. 140 f.
14

Um neben den politische Interessen der Unternehmer auch die Positionen gegenüber
Gewerkschaften und Arbeitnehmern sowie in der Sozialpolitik zu vertreten, organisieren
sich die Arbeitgeber im Spitzenverband der deutschen Arbeitgeberverbände, der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Im Unterschied zu den
Wirtschaftsverbänden vertreten die Arbeitgeberverbände also die Interessen auf dem
Arbeitsmarkt, eine eher ungewöhnliche Trennung innerhalb der OECD-Staaten.
46
Der
Bundesvereinigung gehören im Jahr 2012 52 Bundesfachspitzenverbände, also
Fachvereinigungen aus diversen Branchen von Industrie über Handel, Verkehr bis zur
Landwirtschaft an, zudem 14 Landesvereinigungen von Arbeitgeber- bzw. Unter-
nehmensverbänden.
47
In der Summe sind in den Mitgliedsorganisationen der BDA mehr
als 1000 vollkommen selbstständige Verbände organisiert, für welche die BDA als
Dachverband agiert. In Deutschland spielen diese Arbeitgeberverbände für die
Untersuchung der Arbeitsbeziehungen die entscheidende Rolle als Gegenspieler der
Gewerkschaften, da sie als Tarifpartner mit der Arbeitnehmerseite verhandeln sowie in
der Folge bindende Tarifverträge aushandeln und abschließen. Selbst besitzt die
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände keine Tariffähigkeit, handelt
aber als unterstützend und beratend, mit dem Ziel, ,,die Tarifpolitik der ihr
angeschlossenen Verbände zu koordinieren".
48
Professionelle Beratungsangebote für die
Mitgliedsverbände gibt es neben Tariffragen auch im Personal- und Rechtsbereich, was
die Stellung der einzelnen Tarifpartner gegenüber den Gewerkschaften stärken soll,
inzwischen aber über die anti-gewerkschaftliche Ausrichtung hinaus auch der Mit-
gliederbindung dient. Dabei leidet die BDA vor allem unter einem kontinuierlichen,
relativen starken Mitgliederverlust, was unter anderem Zahlen zum Organisationsgrad
in der BDA sowie branchenspezifisch in der westdeutschen Metallindustrie zeigen. Die
BDA ist ähnlich strukturiert wie die übrigen Arbeitgeberspitzenverbände, in ihrer Arbeit
allerdings ­ vergleichbar mit dem Einfluss großer Unternehmen auf den ­ abhängig von
besonders einflussreichen Mitgliedsverbänden, was stets ein Konfliktpotential in sich
trägt.
49
Durch den oben beschriebenen Mitgliederverlust aber auch durch organisato-
rische Veränderungen wie Neugründungen von Arbeitgeberverbänden, die nicht tarif-
46 Schroeder 2007: S. 197
47 BDA: Unsere Mitglieder http://www.bda-
online.de/www/arbeitgeber.nsf/id/13C4948D0DD34D96C1256DE70069F2E1
48 Reutter 2012: S. 141
49 Reutter 2012: S. 141
15

gebunden sind, stellt sich den Arbeitgeberverbänden in Deutschland eine aktuelle
Herausforderung, ihre herausragende Position als Vertreter der Interessen am
Arbeitsmarkt ist allerdings als kaum gefährdet anzusehen.
50
3.1.2 Gewerkschaften
Die heutigen Gewerkschaften in der Bundesrepublik blicken auf eine lange Tradition
zurück, bestehen aber in ihrer aktuellen Form im Wesentlichen seit der Nachkriegszeit.
Die Einschnitte des zweiten Weltkrieges hatten erhebliche Auswirkungen auf die deutsche
Gewerkschaftslandschaft. Vor der Gleichschaltung der Gewerkschaften zur sogenannten
Deutschen Arbeiterfront im Dritten Reich (vgl. staatlich-autoritärer Korporatismus in
Kapitel 2.2.1) existierten mehrere, politisch unterschiedlich orientierte gewerkschaftliche
Dachverbände. Erst nach dem Ende der Naziherrschaft gründete sich der DGB als
Versuch, eine Einheitsgewerkschaft zu schaffen und eine Fragmentierung des gewerk-
schaftlichen Lagers, wie zu Zeiten der Weimarer Republik geschehen, zu vermeiden.
51
Dass diese Bemühungen bis heute nicht in vollem Umfang den gewünschten Erfolg
erzielten, lässt sich bereits bei einer oberflächlichen Betrachtung erkennen. So existieren
neben dem DGB noch der Deutsche Beamtenbund und Tarifunion (DBB) sowie der
Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) als weitere Dachverbände. Dabei kommen im Jahr
2012 auf diese drei Dachverbände insgesamt 60 Mitglieds- und Einzelgewerkschaften,
52
wobei allerdings die lediglich acht Mitgliedsgewerkschaften, die im DGB organisiert
sind, etwa 80% aller deutschen Gewerkschaftsmitglieder vertreten. Dieses Größen-
verhältnis zeigt die relative Kräfteverteilung unter den jeweiligen Dachverbänden.
Die beiden kleineren Verbände, also DBB und CGB, sowie Berufsverbände gründeten
sich aufgrund verschiedenster Vorbehalte parallel bzw. außerhalb des DGB. So entstand
etwa der CGB insbesondere aufgrund von Schwierigkeiten, die konservativ-chistliche
Kräfte mit Sozialdemokraten als dominierender politischer Kraft innerhalb der DGB-
50 Schroeder 2007: S. 197 ­ 216 (gesamter Absatz)
51 Hassel 2007: S. 174 f.
52 Mit Stand vom 14.09.2012 entfallen hierbei auf den DGB acht, auf den CGB 14 und auf den DBB 38
Gewerkschaften. Die Angaben stammen von den jeweiligen Dachverbänden und sind auf den
offiziellen Interentseiten nachzulesen (DGB: http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/gewerkschaften-
im-dgb) (CGB: http://www.cgb.info/organisation/einzelgewerkschaften.html) (DBB:
http://www.dbb.de/ueber-uns/mitgliedsgewerkschaften.html)
16

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783958206885
ISBN (Paperback)
9783958201880
Dateigröße
705 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,3
Schlagworte
Korporatismus Pluralismus Interessenvertretung Arbeitsbeziehung Gewerkschaft

Autor

Bernd Frederik Fertig wurde 1986 in Würzburg geboren. 2012 schloss er den Studiengang ‘Political and Social Studies’ an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg mit der Verleihung des akademischen Grades B.A. ab. Seit 2012 studiert er den Masterstudiengang ‘Politikwissenschaftliche Demokratiestudien – Demokratie und Globalisierung’ an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald.
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Titel: Organisierte Interessenvertretung in Deutschland und Österreich: Die Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen seit den 1990er Jahren im Vergleich
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