Komplexität in multiperspektivisch erzählten Filmen: Aufbau von Komplexität mit Hilfe verschiedener Erzählstrategien in „Rashomon“ und „Syriana“
Zusammenfassung
Im Zentrum dieser Arbeit steht die Analyse zweier Spielfilme („Rashomon“ aus dem Jahr 1950 und „Syriana“ aus dem Jahr 2005), die beide auf sehr unterschiedliche Weise multiperspektivisch erzählen.
Anhand dieser beiden Werke erkundet Bärbel Scherf die Bandbreite wie die Funktionalisierungen dieses im filmischen Kontext recht jungen Erzähltypus und geht auch auf die historischen Hintergründe desselben ein.
Am Ende steht die Einsicht, dass „Rashomon“ und „Syriana“ sich nicht nur sehr unterschiedlicher Formen multiperspektivischen Erzählens bedienen. Es wird auch argumentiert, dass die Erzählform in beiden Filmen diametral entgegengesetzt funktionalisiert wird: Während die komplexe Erzählstrategie bei „Rashomon“ Gewissheiten in Frage stellt, fungiert sie im Fall von „Syriana“ zur Vertrauensbildung in die Darstellbarkeit der Welt.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
3.1.1 Räume, Grenzen und Ereignisse
Versucht man, mögliche Räume in Rashomon zu detektieren, so bietet sich eine große Vielfalt, obwohl die Schauplätze und Figuren in quantitativer Hinsicht überschaubar sind. Zunächst kann man von drei Zeit-Räumen sprechen. Der Raum der Rahmenhandlung fasst die drei Erzählerfiguren: Einen Holzfäller, einen Mönch sowie einen Landstreicher bzw. namenlosen Bürger. Letzterer befragt die beiden nach ihren Zeugenaussagen und den Aussagen des Samurai, der Frau und des Banditen vor Gericht, an welche sie sich in Rückblenden erinnern. Diese in der Vergangenheit liegende Gerichtssituation kann man als zweiten Zeit-Raum bezeichnen, wobei wiederum in Rückblenden das Geschehen im Wald erinnert wird, was den dritten Zeit-Raum darstellt. Insofern ergibt sich eine „doppelt gestaffelte Erzählsituation“.[1] Diese Konstellation kann allerdings noch weiter ausdifferenziert werden: Jede einzelne Figur, die sich an das Geschehen aus ihrer Perspektive erinnert, schafft einen eigenen, subjektiven erinnerten Raum, der sich von denen der anderen erzählenden Figuren unterscheidet: Jeder schreibt den beteiligten Charakteren andere Eigenschaften hinzu, die Ereignisse unterscheiden sich in ihren Verläufen voneinander, lediglich topographische Aspekte bleiben gleich.
Beginnen wir mit dem Raum der übergreifenden Rahmenhandlung. Dieser erhält eine klare Verortung: Die ersten Bilder des Films zeigen das halb zerstörte Tempeltor „Rashomon“ in Kyoto.[2] Insofern kann man von einem topographischen Raum mit kulturell-referentialisierendem Aspekt sprechen: Rashomon war das größte Tor in Kyoto, erbaut als dieses noch die Hauptstadt Japans war. Mit dem Verfall der Stadt begann sich auch Rashomon mehr und mehr in eine Tempelruine zu verwandeln. „Später wurde es zu einem Versteck für Räuber und Diebe, es diente als Lagerstätte für Verstorbene.“[3] Diese Konnotationen lassen sich auch inhaltlich im Film wiederfinden: Der Holzfäller und der Landstreicher beispielsweise stellen sich letzten Endes als Diebe heraus, und auch Tajomaru wird als ein berüchtigter Bandit beschrieben. Regen prasselt während des gesamten Films an diesem Schauplatz herunter, der verfallene Tempel ragt hoch auf, die Charaktere sitzen melancholisch versunken unter dem Dach.[4] Der semantische Raum wird insofern nicht nur von gewissen historischen Bezügen charakterisiert, sondern ist auch bestimmt von zusätzlichen Konnotationen wie Grübelei und Stillstand. Denkt man ihn im Gegensatz zu den anderen Räumen im Rahmen einer Hierarchie, so stünde er in dieser ganz oben: Durch die Figuren Holzfäller und Mönch und deren Erinnerung kommen die restlichen Räume erst zur Darstellung, erst durch deren Erzählungen und Reflexionen, begleitet von den Fragen des Landstreichers, kommen die direkt Beteiligten des Geschehens zu Wort: „Die Frau, ihr Ehemann und natürlich der Räuber – sie werden allein lebendig durch die Projektion dieser beiden, deren Urteil ebenso in Zweifel gezogen werden darf.“[5] Der semantische Raum um das Tempeltor ist also der wichtigste Raum, der Rahmen, der die Story zusammenhält und in der Gegenwart situiert ist.
Außerdem ist er ein dynamischer Raum: Die Kamera wechselt von nahen und halbnahen Einstellungen zu Totalen, von Auf- zu Untersichten[6] und setzt die Protagonisten „[…] in immer wieder neuen Konstellationen […] ins Bild.“[7] Der zweite Zeit-Raum am Gerichtshof dagegen ist schon etwas in die Vergangenheit geschoben, bezüglich seines Modus ist er ein erinnerter Raum, und nur durch diese Erinnerung existent. Holzfäller und Mönch beispielsweise erinnern sich an ihre eigenen Aussagen und die des Banditen, der Frau und des (Geistes des) Samurai.[8] Im Gegensatz zum Ort der Rahmenhandlung ist der Gerichtshof unspezifisch, sehr reduziert und funktionalisiert – würde man ihn nicht als solchen benennen, er könnte auch für einen beliebigen anderen Raum stehen, da er fast leer ist.[9]
Zudem ist er vollständig hell ausgeleuchtet, Schatten, wie im Wald oder beim Tempel gibt es keine, die Kamera bleibt statisch und wechselt nur manchmal von einer Halbnahen zu einer Nahaufnahme, die Einstellungen selbst sind lang.[10] Auch die jeweiligen Zeugen, die zur Sprache kommen, bewegen sich nicht. Sie sprechen alle einen unspezifischen Richter an, der selbst nicht antwortet oder zur Darstellung kommt, die Einstellungen sind jedoch aus seiner Perspektive gefilmt. All dies macht den Raum zu einem nicht verorteten, zweckhaften und abstrakten Raum. Damit wird der Fokus auf die bloße Interpretation der Ereignisse gelegt: „Their [die Szenen; BS] stylistic abstractness serves to identify the courtyard as an entirely theoretical realm, one designed expressly to serve as the setting for the interpretive drama and for no other. And in entering this realm, in assuming the position of the magistrate, we are ourselves defined in an exclusively interpretive role.”[11] Der rein leere Raum, so könnte man somit interpretieren, soll keine Ablenkung schaffen, damit sich die Aufmerksamkeit (des Zuschauers) ausschließlich auf den Akt der Interpretation der Geschehnisse konzentrieren kann. Bestätigt wird diese Annahme durch einen abschließenden Befund von Julika Griem:
Der Eindruck, daß Kurosawas Erzählung durch diese visuelle Strategie die Aufgabe der Relationierung der verschiedenen Figurenperspektiven an den Zuschauer delegiert, wird am Ende des Prozesses bestätigt, indem gerade kein Urteil gefällt wird: Die Aufklärung des Verbrechens kann nicht innerhalb der diegetischen Welt geleistet werden, sondern bleibt dem Zuschauer überlassen.[12]
Der dritte Zeit-Raum fasst die Geschehnisse im Wald[13], reicht also noch ein Stück weiter in die Vergangenheit zurück und steht am Ende der interpretativen Kette: „[…] as members of the film audience, we interpret the attempt at the gate to interpret the attempt in the courtyard to interpret the events in the woods.“[14] Auch er ist somit ein erinnerter Raum sowie ein topographischer Raum, jedoch ist er weder so abstrakt wie der Gerichtshof, noch mit historisch-kulturellen Bezügen aufgeladen wie das Tempeltor. Man könnte von ihm als einem Topos sprechen: Es handelt sich um einen typischen, unspezifischen Wald: Die Figuren sind im Gegensatz zum Gerichtshof dynamisch, laufen durch Geäst und Blättergewirr, sind oft davon verdeckt und der Schauplatz wird in starken Licht- und Schattenkontrasten gezeigt.[15] Auch die Kamera ist, wie am Rashomon-Tor, mobil. „Sie wechselt zwischen Vogelperspektive und Untersichten, schnellen und langsamen Fahrten […].“[16] Die Charaktere werden zudem nicht wie während den Prozess-Szenen aus einer Perspektive – nämlich der des unsichtbaren Richters – gezeigt, sondern aus verschiedenen Perspektiven[17], der Zeit-Raum „Wald“ bietet uns damit „[…] verschiedene Identifikationsmöglichkeiten und Revisionsmöglichkeiten an […].“[18] Blickt man nun noch auf die metaphorische Komponente dieses Raums, ist es naheliegend, den Wald – eine anarchische, wilde Landschaft, fernab der Zivilisation – als ein Symbol für das Verborgene und Geheime zu deuten, als einen Ort, an dem menschliche Normen und Werte außer Kraft gesetzt sind: In vielen Einstellungen wird die Sonne gezeigt, die nur teilweise ihren Weg durch das Geäst findet[19] und die Figuren sind wie erwähnt oft verdeckt von Bäumen oder umgeben von Schatten.[20]
Fasst man diese Befunde also nun für die drei Zeit-Räume und deren Funktionen zusammen, so steht ein Raum der Gegenwart, rahmenden Erzählung und melancholischen Grübelei neben einem abstrakten, statischen Raum der Interpretation, verhaftet in der nahen Vergangenheit und einem noch weiter in der Zeit zurückliegenden dynamischen Raum der möglichen Wahrheiten oder Lügen, des Verborgenen. Im Detail lassen sich hieraus noch weitere Räume festmachen, denn jede Figur eröffnet mit ihrer Erzählung einen neuen Raum, der zur Darstellung kommt. Jeder will etwas anderes gesehen haben und bewertet das Geschehen sowie die vorkommenden Charaktere dementsprechend individuell.
Zunächst wäre da zum Beispiel die „Zeugenaussage“ des Holzfällers zu Beginn des Films zu nennen: Die Kamera begleitet ihn bei seinem Gang durch den Wald. Nach und nach tauchen Indizien wie der Hut der Frau, ein Beutel aus Seide sowie ein Strick auf. Schließlich findet der Holzfäller die Leiche und rennt schockiert davon, um, wie er berichtet, dem Gericht das Gesehene sofort mitzuteilen.[21] Später stellt sich heraus, dass dieser „Raum“, diese erste Geschichte des Holzfällers komplett erlogen ist – denn wie er im Verlauf zugibt, wollte er nur nicht in die Geschehnisse involviert werden. Dies könnte man nun mit der Aussage des Mönchs, der den Samurai und seine Frau vor dessen Tod auf der Straße von Sekiyama nach Yamashina gesehen haben will (dies ist ebenfalls ein ländlicher Raum mit Wald, nur mit dem Unterschied, dass eine Straße hindurchführt), sowie mit dem Bericht desjenigen, der den angeklagten Banditen fand und dem Gericht übergibt (der Raum kommt als ein unspezifischer Strand an einem Fluss zur Darstellung)[22], weiterspinnen, jedoch sind diese Räume für den Plot nicht von großer Bedeutung – allerdings steigern sie die Komplexität, da der Zuschauer sie mit den weiteren Versionen der Geschehnisse synchronisieren muss, wie später noch zu zeigen sein wird.
Wichtiger an dieser Stelle ist die Perspektive des ersten direkt Beteiligten auf die Ereignisse, des Banditen Tajomaru, der den Samurai getötet haben will. In seinem semantischen Raum trägt die Frau indirekt die Schuld am Tod des Samurai, denn wie er berichtet, wollte er mit ihr schlafen, ohne ihren Mann töten zu müssen.[23] Der von ihr heraufbeschworene Kampf zwischen ihm und dem Samurai sei allerdings ehrbar gewesen, von der Kampfkunst des Samurai sei Tajomaru immer noch beeindruckt[24] – seine eigene Ehre bleibt in dieser Version somit unangetastet. Die Frau beschreibt er als kindlich aussehend, als „wild“ und „ungestüm“, sowie als begehrenswerte „Göttin“ – und neben ihr ist auch der Raum in letzterer Hinsicht inszeniert: In einigen Einstellungen ist der Hintergrund dunkel und sie hebt sich mit ihrem weißen Gewand strahlend davon ab, unnahbar und unantastbar scheinend, da sie ihr Kimono und Hut mit einem langen Schleier daran komplett verdecken.[25] Als sie am Ende davonläuft, habe Tajomaru den Eindruck gewonnen, dass sie doch „wie alle anderen Frauen“ sei.[26]
Als der Mönch von ihrem Auftritt am Gericht erzählt, sagt er, er habe keineswegs den Eindruck von „Wildheit“, eher von Jämmerlichkeit und Gefügigkeit gehabt.[27] Auch sie selbst stellt sich in ihrem semantischen Raum in dieser Art und Weise dar: Sie tut alles, um den Samurai auf ihre Seite zu ziehen, sie weint, schämt sich offensichtlich für das, was Tajomaru mit ihr tat, und verlangt von ihrem Mann, der sie mit verabscheuenden Blicken straft, sie zu töten. Sie erträgt seine Ablehnung nicht und laut ihrer Aussage sei das nächste, was sie gesehen habe, ihr Dolch in der Brust ihres Mannes gewesen. Sie weint während dieser Erzählung beständig und stellt sich als „arm“ und „hilflos“ dar, als nicht zurechnungsfähig während der Tat und als reuevoll, was ihre missglückten Selbstmordversuche danach beweisen sollen.[28] Sie ist in ihrer Version die geschändete Frau, „unschuldige[s] Opfer einer brutalen Männerwelt.“[29]
Beides sind also, um dies noch einmal deutlich zu machen, nur durch die Erinnerung existente Räume – die von Tajomaru und der Frau auf einer ersten Ebene, wiedergegeben jedoch von Holzfäller und Mönch – genauer genommen also doppelt erinnerte Räume, was sie noch ein Stück weiter weg von der Situation, wie sie sich wirklich zugetragen haben mag, entfernt. Denn mit jeder erneuten Wiedergabe der Erzählung kommen erfahrungsgemäß noch ein wenig mehr Auslassungen oder auch Hinzudichtungen hinzu – und man darf nicht vergessen, dass beispielsweise der Mönch nicht direkt anwesend war, insofern könnte es sich auch um imaginierte Räume handeln, die er sich aus den Berichten der beteiligten Charaktere vorstellt. Eine weitere Besonderheit kommt mit dem semantischen Raum des ermordeten Samurai hinzu, denn dieser kommt erst durch eine Totenbeschwörerin, die das Ritual der Anrufung vor Gericht vollzieht, zur Sprache. Erst durch sie als Medium wird sein semantischer Raum dargestellt – insofern ist er auch ein Grenzraum, der sich zwischen Leben und Tod konstituiert, und der Samurai sowie die Totenbeschwörerin stellen beide in diesem Sinne Grenzüberschreiter dar. Ansonsten kommt er wie die anderen Räume nur durch die Beobachtung von Holzfäller und Mönch und deren Erinnerung daran zur Sprache. In der Version des toten Samurai ist es wiederum Tajomaru, der trotz seiner Tat immer noch als ehrenvoller bewertet wird als die Frau des Samurai: Sie stellt sich hier als gehässig dar, als berechnende Verführerin – nicht nur, dass sie plötzlich an der Seite des Banditen steht, ihm sagt er „könne sie haben, wo er wolle“, sie verlangt auch von ihm, ihren Mann zu töten – nur so könne sie mit ihm gehen.[30] Der Bandit stellt sich in dieser Version auf die Seite des Samurai, er ist nun ebenso angewidert von der Frau und ist bereit zu tun, was der Samurai verlangt – die Frau jedoch entkommt, der Samurai ersticht sich mit ihrem Dolch.
Er und die anderen beiden Figuren zeigen sich damit in ihren jeweiligen Versionen verantwortlich für seinen Tod und haben dieselben Motive: Sie wollen die eigene Ehre wieder herstellen oder bewahren, oder töten, um nicht mehr mit der Schande leben zu müssen. Laut dem Metzler Filmlexikon zeige dieser semantische Raum des Toten außerdem, „‘daß dieser sündhafte Wunsch, ein falsches, schmeichelndes Bild von sich zu vermitteln, sogar über das Grab hinaus Bestand hat‘“.[31]
Kommen wir nun zum zweiten semantischen Raum des Holzfällers, der zur Darstellung kommt, da sich dessen erste Version als Lüge herausstellt. Dieser ist der einzige direkt präsentierte Raum, der nicht bereits durch die Aussage vor Gericht aus zweiter Hand nacherzählt wird: Der Holzfäller erzählt am Rashomon-Tor davon.[32] Hier ist es wieder die Frau, die von beiden Männern aufgrund ihrer Ehrlosigkeit stehengelassen wird, nachdem sie es diesen überlässt, um sie zu kämpfen.[33] Erst als sie beide als schwach tituliert und sie damit zum Kampf anstachelt, sind sie dazu bereit, allerdings: Anstatt, dass wie in der Erzählung Tajomarus ein ehrenhafter Kampf stattgefunden habe, handelt es sich hier um ein „Hasenfußrennen“, bei dem beide Protagonisten vor Angst zittern.[34] „Diese letzte Version ist nicht ohne Grund die ganz persönliche des Holzfällers, der für Adlige und Räuber naturgemäß keine große Sympathie aufbringt. Für einen Holzfäller gibt es keine Helden.“[35] Am Ende tötet Tajomaru in diesem Kampf um Leben und Tod wiederum den Samurai, die Frau flieht.
Nachdem diese zahlreichen Räume ausgemacht wurden, soll nun noch ein Blick auf Ereignisse, d.h. Grenzüberschreitungen geworfen werden, die in Rashomon stattfinden. Es sind vor allem Figurenmerkmale, die sich ändern: Der Holzfäller beispielsweise, der sich auf allen drei Zeitebenen wiederfinden lässt, bezichtigt die durch die verschiedenen Geschichten bzw. semantischen Räume auftretenden Beteiligten der Lüge, sowie den Landstreicher des Diebstahls, stahl und log allerdings selbst. Darauf aufmerksam gemacht nimmt er sich des Neugeborenen an, das als ein neues Element am Ende des Films in den semantischen Raum am Rashomon-Tor tritt. Durch dessen Auftreten ändern sich die Merkmale des Holzfällers, er geht im abstrakt semantischen Gegenraum auf, den man im Gegensatz zu den erlogenen semantischen Räumen, in denen jeder nur für sich das Beste herausschlagen will, mit „Wahrhaftigkeit“ oder auch „Güte“ betiteln könnte.
Außerdem verlässt er den semantischen Raum am Rashomon-Tor, der mit Grübelei und Melancholie verbunden ist, zusammen mit dem Neugeborenen – er lässt also seine melancholische, pessimistische Haltung den Menschen gegenüber hinter sich, so könnte man interpretieren, und verlässt lächelnd die Szenerie.[36] Auch der Mönch ändert sich durch die Tat des Holzfällers: Er gewinnt seinen Glauben an das „Gute im Menschen“ wieder, wobei er vorher nur Hoffnungslosigkeit und Melancholie verspürte.[37] Er verbleibt am Rashomon-Tor, allerdings hört der Regen am Ende symbolträchtiger Weise auf und die Sonne bricht durch. Der Landstreicher ist der einzige der drei Erzählerfiguren, die sich nicht ändern – seine Funktion ist die des Relativisten, der niemandem Glauben schenkt und ohne weitere Konsequenzen den semantischen Raum am Rashomon-Tor verlässt.
Innerhalb der einzelnen erinnerten semantischen Räume treten, wenn überhaupt, nur Ereignisse auf, bei denen es zum Verlust eines konstitutiven Merkmals bzw. zur Annahme des dazu oppositionellen kommt: Mord und Vergewaltigung lassen in den jeweiligen Versionen die Figuren verschiedenartig reagieren. Aus der Perspektive der Frau beispielsweise bringt sie die Abscheu ihres Mannes vor ihr dazu, ihn umzubringen – von der Ehefrau entwickelt sie sich zur Mörderin und möglicherweise zur Lügnerin – letzteres ist bei allen anderen Figuren logischerweise auch der Fall. Die Grundordnung der Räume, ihre Grenzen bleiben allerdings unangetastet. Denn zwischen den erzählten bzw. erinnerten Räumen lassen sich keine Grenzüberschreitungen finden, sie sind logischerweise voneinander abgetrennt, da sie der Erinnerung verschiedener Figuren entspringen, und die einzelnen Charaktere und Umstände in den semantischen Räumen unterscheiden sich, wie man den vorherigen Ausführungen entnehmen kann, stark voneinander. Die Ausnahme bildet wie erwähnt die Totenanrufung: Sie bringt Dynamik in den starren Gerichtssaal, die Grenze zwischen Leben und Tod wird überschritten. Der Samurai kehrt aus dem zweiten semantischen Raum – einer Art „Jenseits“ – in den Ausgangsraum, das Diesseits über das Medium der Totenbeschwörerin zurück und ist damit erst in der Lage, seine Geschichte zu erzählen.
3.1.2 Erzählstrategie und Komplexitätsaufbau
Nachdem Räume, Grenzen und Ereignisse in Rashomon eingehend untersucht wurden, sollen nun Erzählstrategie und Komplexitätsaufbau mithilfe des genannten Kriterienkatalogs zur Sprache kommen. Durch die Erzählweise des Films, bei welcher ein Ereignis aus verschiedenen Perspektiven geschildert wird – und das nicht nur durch die drei Figuren aus der Rahmenhandlung, die sich erinnern, sondern auch auf einer zweiten Ebene durch die direkt Beteiligten und Augenzeugen im Gerichtssaal –, entsteht eine große Raumvielfalt, die der Zuschauer erst einmal organisieren und ordnen muss, und die im Folgenden dargestellt werden soll. Zählt man alle im vorigen Kapitel untersuchten Räume zusammen, ergeben sich neun verschiedene Räume: Der semantische Raum am Rashomon-Tor, die erste Geschichte bzw. der erste Raum des Holzfällers, der semantische Raum am Gericht, der Raum des Mönchs, der erzählt, wie er den Samurai und seine Frau auf der Straße nach Yamashina gesehen habe, der Raum des Mannes, der den Angeklagten dem Gericht übergibt, der semantische Raum von Tajomaru, der semantische Raum der Frau, der semantische Raum des Samurai und schließlich der zweite semantische Raum des Holzfällers.
Es handelt sich also nicht nur um eine relativ hohe Anzahl an Räumen, sondern auch um Räume auf unterschiedlichen Zeitebenen, um Räume, die durch unterschiedliche und teilweise mehrere Perspektiven hindurchgehen – die (doppelt) erinnerten oder imaginierten Räume –, Räume, deren Richtigkeit bzw. Authentizität man nicht trauen kann, sowie Räume mit unterschiedlichen Funktionen (wie der Rahmung am Rashomon-Tor), die im vorigen Kapitel genannt wurden. Eine große Vielfalt also vor allem in qualitativer Hinsicht. Dabei lösen sich die einzelnen Räume oft unerwartet durch Schiebeblenden ab: Die Einführung des Gerichtsraums beispielsweise erfolgt dadurch sehr plötzlich und wird erst kurz vor der Blende auf sprachlicher Ebene eingeleitet: Drei Tage nach seinem Fund sei der Holzfäller vor das Gericht geladen worden.[38] Auch die Aussage des Mönchs, die kurz darauf auf die des Holzfällers folgt, wird mit einer Schiebeblende eingeleitet und trifft den Zuschauer damit unvorbereitet, genauso wie die Aussage des Mannes, der Tajomaru überführt.[39] Eine zusätzliche Komplexitätssteigerung wird durch die Anordnung der Räume erreicht: Die Handlungsstränge in Rashomon werden nicht abgeschlossen nacheinander erzählt – dies wäre auch nicht möglich, da Rashomon-Tor und Gericht eine rahmende Funktion erhalten und damit gar nicht eigenständig sein könnten –, sondern unterbrechen sich immer wieder wechselseitig, der Zuschauer muss die Räume ordnen, was vor allem in der ersten halben Stunde des Films eine nicht eben einfache Aufgabe ist.[40] Als beispielsweise der Samurai durch die Totenbeschwörerin seine Version der Ereignisse erzählt, löst die Darstellung seiner Aussage vor Gericht immer wieder den Raum der eigentlichen Geschehnisse im Wald nach seiner Perspektive ab, um diese zu kommentieren.[41] Genauso verhält es sich etwa auch mit Tajomarus Aussage vor Gericht und seiner Version der Geschehnisse.[42] Der rahmende semantische Raum am Rashomon-Tor kommt am Anfang und am Ende des Films, sowie nach den Aussagen der zentralen Figuren zur Darstellung, letzteres um das Gehörte zu kommentieren und zu bewerten, wobei vor allem durch diese bewertenden Aussagen Zweifel an den einzelnen Versionen gestreut werden.[43] Durch diese Anordnung und Funktion des Raumes am Rashomon-Tor wird also ebenfalls Komplexität gesteigert.
Dies bringt mich zu einem weiteren Punkt – der Charaktervielfalt. Denn die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussagen einer relativ großen, aber trotzdem überschaubaren Menge an Figuren[44] können in einer gewissen Weise nur durch diese Menge selbst entstehen: denn je mehr Figuren es gibt, umso schwieriger ist es, eine Identifikationsfigur auszumachen. In Rashomon fungiert keine der Figuren als klare und dominante Identifikationsfigur für den Zuschauer, es gibt keinen „Helden“. Die drei Erzähler am Rashomon-Tor erhalten nicht nur keine Namen – sie sind also anonym –, sondern haben auch alle drei eine gleichwertige Funktion als Interpretanten.
Wie im Kapitel zuvor festgestellt wurde, zeigt die Kamera sie aus verschiedenen Perspektiven, wir sehen die fiktionale Welt aus der Sicht mehrerer Protagonisten und erhalten damit keine klaren Hinweise, welche Ansicht welches Protagonisten die nachvollziehbarste und möglicherweise die „richtige“ ist. Wir als Zuschauer müssen selbst entscheiden, welcher der drei uns am sympathischsten oder glaubwürdigsten erscheint und sind dementsprechend gefordert. Während im Gerichts-Raum wir selbst als Interpretanten in den Fokus gerückt sind, so ist es im Wald ähnlich wie am Tor: Die Kamera nimmt jeden Blickwinkel ein, die Versionen widersprechen sich so sehr, dass wir keiner Erzählung trauen können und entscheiden müssen, welches die Geschichte sein könnte, die am ehesten der Wahrheit entspricht. Wenn wir die Charaktervielfalt auch an dieser Stelle in qualitativer Hinsicht betrachten, so ergeben sich durch die unterschiedlichen semantischen Räume auch unterschiedliche Charakterdarstellungen. Da auch dieser Punkt im vorigen Kapitel eingehend untersucht wurde, soll an dieser Stelle ein Beispiel genügen: Die Frau des Samurai ist in der Darstellung Tajomarus eine verführerische, unnahbare Göttin, wild und leidenschaftlich. In ihrer eigenen Darstellung dagegen eine arme, hilflose und geschändete Ehefrau, die mit dieser Schande nicht leben kann. In der Perspektive ihres toten Gatten dagegen eine gewiefte, durchtriebene und berechnende Verführerin – kalt und bösartig, während sie schließlich in der letzten Version, der zweiten des Holzfällers, als geschändete, hilflose Frau, andererseits als eine wütende Furie, die den Kampf zwischen den Männern heraufbeschwört, auftritt, um während des Kampfes schließlich als ängstlich dargestellt zu werden – fast scheint es, als wären in dieser letzten Version alle ihr zuvor zugeschriebenen Charaktereigenschaften vereint.[45] Auch hier gilt es zu entscheiden, oder zumindest zu überlegen, welche Charakterdarstellung wohl die am ehesten zutreffende sein könnte.
Betrachten wir nun die Zeit in Rashomon: Nach einer Differenzierung von David Bordwell und Kristin Thompson kann Zeit in „temporal order“, „temporal duration“ und „temporal frequency“ eingeteilt werden.[46] Indem der Zuschauer aus dem Plot[47] die Story[48] eines Films konstruiert, versucht er, die Ereignisse in eine chronologische Ordnung – eine „temporal order“ – zu bringen, und achtet gleichzeitig auf deren Dauer und Häufigkeit.[49] Was die grundsätzliche zeitliche Ordnung in Rashomon angeht, alternieren Gegenwart und Vergangenheit im Plot: Vom Rashomon-Tor, der Gegenwart, wird in Form von flashbacks die Vergangenheit am Gerichtshof erinnert, wobei diese zeitlich am selben Tag, wahrscheinlich ein paar Stunden zuvor, zu verorten ist. Von dort aus kommen in weiteren flashbacks die Ereignisse im Wald zur Darstellung, die sich drei Tage vor der Gerichtsverhandlung und dem Treffen am Tor abspielen – die zeitlichen Angaben werden dabei von den Charakteren gemacht. Von dort aus wird immer wieder in die Gegenwart gesprungen, um das gerade Erzählte und Gehörte zu kommentieren und zu bewerten. Die verschiedenen Zeit-Räume müssen während der Rezeption vom Zuschauer in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden, was sich vor allem anfangs wegen der Vielfalt der Räume und der angesprochenen die Räume unmittelbar verbindenden Schiebeblenden nicht einfach gestaltet. Entscheidend für den Komplexitätsaufbau erscheint außerdem weniger die „temporal duration“ – die Dauer der Stories, des Plots, sowie des gesamten Films –, sondern die „temporal frequency“ – und dies vor allem deshalb, weil die Figuren wie erwähnt klare Angaben zur Dauer machen, so dass relativ klar ist, wie groß beispielsweise die einzelnen Zeitspannen zwischen den drei Zeit-Räumen sind. Aufgrund der multiplen Erzähler und deren Perspektiven eines einzigen Ereignisses kann man von einer erhöhten „temporal frequency“ sprechen – dasselbe Ereignis wiederholt sich immer wieder, nur in unterschiedlichen Versionen. Der Plot bietet uns damit mehr und mehr Informationen, sodass wir die Ereignisse immer wieder in einem neuen Kontext sehen, wenn sie wiedererzählt werden. Vorher getroffenen Entscheidungen bzgl. der Glaubwürdigkeit einzelner Geschichten oder Personen müssen damit ständig neu überdacht oder ganz revidiert werden.
Der Plot weist damit eine hohe Komplexität auf und bietet eine Menge an Informationen, wobei die Stories an und für sich betrachtet eigentlich relativ einfach gehalten sind: Der Tathergang eines Mordes und einer vorher stattfindenden Vergewaltigung wird von verschiedenen Personen erzählt, einige berichten von Beobachtungen vor der eigentlichen Tat und einige beraten sich über diese Erzählungen und versuchen sie zu bewerten. Insofern muss an dieser Stelle betont werden, dass Komplexität nie ohne deren Reduktion zu denken ist, denn immer weiter gesteigerte Komplexität ist nicht möglich oder wird im Film vom Rezipienten mit Ermüdung und Überforderung beantwortet. Auch Luhmann schließt diesen Aspekt in seine Definition über Komplexität mit ein: „Komplexitätsreduktion bedeutet, daß die Struktur der Relationen zwischen den Elementen […] in einem besonderen System mit einer kleineren Zahl von Relationen rekonstruiert wird. Die Komplexität wird im System nur durch Reduktion realisiert und erhalten: Reduktion und Erhaltung der Komplexität widersprechen sich nicht, sondern setzen sich gegenseitig voraus.“[50]
Ein weiterer Punkt der Komplexitätssteigerung ist das bewusste Setzen von Informationslücken. Den ganzen Film über wissen wir niemals mehr, als die Protagonisten selbst aus den gehörten Geschichten heraus wissen, haben keinen Vorsprung sondern sehen immer nur das, was sie gesehen haben wollen oder hören das, was auch die anderen Figuren hören. Genau wie die drei Erzähler-Figuren am Rashomon-Tor spekuliert der Rezipient, die Storyinformationen sind begrenzt. Dies motiviert damit das Interesse des Zuschauers, das Geschehen zu rekonstruieren, wie es vorgefallen sein könnte.[51] Die Konfusion wird dabei umso größer, je mehr Versionen wir hören. Beziehen wir an dieser Stelle das Leerstellenkonzept Isers mit ein, so kann man hiermit noch ein Stück weitergehen: Laut Iser haben literarische Texte immer einen sog. „Unbestimmtheitsbeitrag“, da sie aufgrund ihrer Fiktionalität mit keiner lebensweltlichen Situation, mit keiner subjektiven Realität übereinstimmen.[52]
Zudem mache jeder Leser seine ganz eigenen Erfahrungen, „[…] an die er sich halten kann, um Feststellungen über das vom Text Vermittelte zu treffen.“[53] Diese Befunde lassen sich natürlich mühelos auf filmische Texte übertragen, da auch diese fiktional sind und somit nicht mit realen Gegebenheiten übereinstimmen. Wegen dieser nicht vorhandenen Deckungsgleichheit, die auch dadurch entsteht, dass Texte generell mit Unbestimmtheitsstellen operieren müssen (etwa durch elliptische Beschreibungen eines Tagesablaufes, da nie alles erzählt werden kann) entstehen sog. „schematisierte Ansichten“, die „[…] oftmals unvermittelt aneinander stoßen“[54], wonach der Text einen Schnitt bzw. eine Leerstelle besitzt, die der Leser auffüllen möchte. Rashomon besitzt demnach so viele Leerstellen bzw. Interpretationsmöglichkeiten, wie es Versionen des Ereignisses gibt: Keine wird bevorzugt, alle sind gleichwertig. Dies wird vor allem am Ende des Films offenbar, denn dort wird keine Lösung angeboten, „[…] ‘ The Great Rashomon Murder Mystery remains unsolved.‘“[55]
Die Leerstellen sind insofern durch einen geringen Determiniertheitsgrad definiert: der Regisseur gibt nicht vor, wie diese aufzufüllen wären, das Ende bleibt in dieser Hinsicht offen. Die Kommentare der drei Erzählerfiguren bieten dabei Bewertungsangebote an: Sie diskutieren die Glaubwürdigkeit der einzelnen Geschichten, mindestens eine der Figuren jedoch stellt diese Glaubwürdigkeit des Gehörten in Frage: Nach der Version Tajomarus erzählt der Landstreicher, dass zwei Frauen tot in den Bergen aufgefunden wurden – dies müsse ebenfalls auf den Bandit zurückzuführen sein. Als der Mönch erzählt, dass die Frau vor Gericht erschienen sei, erwidert der Holzfäller, dass die Geschichte Tajomarus und die der Frau gelogen seien, worauf ein Gespräch über Lügen beginnt, die laut Landstreicher menschlich seien und auch laut Mönch auf die „Schwäche des Menschen“ zurückzuführen seien.[56] Hier werden also Zweifel an Tajomarus Geschichte gelegt, aber auch bereits an der Version der Frau, die an dieser Stelle noch gar nicht zur Darstellung gekommen ist. Nach ihrer Erzählung kommentiert der Landstreicher: Frauen benutzen ihre Tränen, um jeden zum Narren zu halten, sogar sich selbst – insofern sollte man sich vor der Geschichte der Frau in Acht nehmen. Auch hier wird bereits die nächste Geschichte, die des Toten, in Zweifel gezogen und vom Holzfäller ebenfalls als Lüge betitelt.[57] Diese Beispiele zeigen also, dass durchaus Möglichkeiten geboten werden, die Leerstellen bzgl. der Wahrhaftigkeit der Geschichten aufzufüllen – jedoch sind alle gleich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, was bis zum Schluss so bleibt. Das einzig Feststehende, Sichere innerhalb der Diegese ist lediglich das Grundgeschehen: Die Tatsache, dass eine Vergewaltigung und ein (Selbst-)Mord überhaupt stattgefunden haben. Am Ende des Films geht es sodann nicht mehr darum, herauszufinden, wessen Geschichte die wahre ist – zumindest nicht aus Sicht der Erzählerfiguren –, sondern um den erschütterten Glauben an das „Gute“ im Menschen, der nur durch die selbstlose Handlung des Holzfällers wiederhergestellt wird.
Dies lässt mich zum letzten Punkt des Kriterienkatalogs kommen: zum Thema bzw. Genre. Die vielen Leerstellen passen zum vordergründigen Stoff – der Aufklärung eines Mordes. Insofern handelt es sich um einen Krimi: Eine Vergewaltigung und ein Mord haben stattgefunden, also wissen wir nur um die Effekte, aber nicht um die Ursachen – den Mörder, das Motiv, oder ob die Tat durch das Schwert oder den Dolch geschah.[58] Und dennoch steht die Frage nach dem Täter nicht gänzlich im Vordergrund, der wahre Gegenstand des Films gestaltet sich noch etwas vielfältiger, komplexer: „Denn ihr [die drei Erzählerfiguren; BS] starres Entsetzen gilt nicht etwa jenem Verbrechen, das sich vor drei Tagen im Wald ereignet hat […]. Es gilt der Tatsache, dass in dem darauf folgenden Gerichtsprozess alle Beteiligten, inklusive des Toten, in ihren Erzählungen über das Vorgefallene offenbar lügen.“[59] Dabei ist natürlich nie klar, ob wirklich gelogen wird und wer es tut – eine finale moralische Lösung oder Zurechtweisung gibt es nicht, nur der Akt des Holzfällers, der das ausgesetzte Kind an sich nimmt, erzeugt einen milden Optimismus. Insofern geht es also nicht um Wahrheitsfindung, sondern um ein philosophisches Problem – um relative Wirklichkeiten und das Fehlen einer objektiven Wahrheit.
3.1.3 Wahrheit und Sinn
Laut Iser ist das Ausmaß an Leerstellen in Texten seit dem 18. Jahrhundert ständig im Wachsen begriffen und stellt damit ein zentrales Kriterium für eine spezifisch moderne Ästhetik dar.[60] In diesem Sinne ist Rashomon mit seinen gezielt eingesetzten Unbestimmtheiten, deren Art und Weise der Auffüllung offen bleiben, einer solchen modernen Filmästhetik zuzuweisen, deren Beginn meist zwischen 1940 (z.B. Neorealismus) und 1960 (z.B. Nouvelle Vague) gesetzt wird.[61] Durch seine Erzählstrategie, ein Ereignis aus verschiedenen Perspektiven zu schildern, die Bevorzugung einer der vier aber zu verweigern, ergibt sich auch die Annahme der Existenz mehrerer subjektiven Wahrheiten statt einer objektiv gültigen, empirisch überprüfbaren Wahrheit oder Wirklichkeit – eine Haltung, die im Übrigen auch in der Zen Philosophie geläufig ist.[62]
Wenn also die Wahrheiten, nach denen wir suchen, subjektive sind, dann lügt theoretisch auch niemand. Jede der Figuren erzählt die Ereignisse aus ihrer Perspektive heraus, um der eigenen Ehre, des eigenen Stolzes – des persönlichen Egos willen,[63] woraus komplett unterschiedliche Versionen entstehen, die dem jeweiligen Erzähler ein positives Bild zusprechen. Damit wird das konstruktive Element von Wahrheitskonstitution betont.[64] Diese Subjektivität wird auch innerhalb der Bildsprache des Films deutlich: subjektive, unmotiviert erscheinende und plötzlich auftauchende Bilder wie ein Blick in den Himmel seitens Tajomaru oder auf einen Fluss seitens der Frau, die ihrer Erzählung gemäß versuchte, sich darin zu ertränken, verweisen auf diese Art der Wahrheitsfindung.
Diese Blicke werden durch Schnitte vom Gerichtsraum auf die externen Räume simuliert, die mit der Erzählung der Figuren auf der auditiven Ebene parallellaufen.[65] Allerdings ist es am Schluss nicht allein der Relativismus, der durch den Film vermittelt wird: „So fordert uns der Film durch eine unerwartete Schlußsequenz [der Holzfäller nimmt sich des Babys an; BS] dazu auf, dem epistemologischen Dilemma durch eine rein moralische Entscheidung zu entkommen.“[66] Um den moralischen Verfall durch die Annahme subjektiver Wahrheiten – von Partialitäten also – bzw. den Verlust einer objektiv gültigen Wahrheit – eines großen „Ganzen“ – zu vermeiden, verweist der Film, so mutet es an, auf die moralische Verantwortung des Einzelnen, auf dessen zurechnungsfähiges Handeln, was sodann dem Film eine optimistische Wendung, einen Hoffnungsschimmer gibt.
[...]
[1] Vgl. Griem 2000, S. 316
[2] Vgl. Rashomon 1950, 00:00:15 – 00:02:10
[3] http://www.hdm-stuttgart.de/~curdt/Rashomon.pdf
[4] Vgl. Abb.1 u. 2
[5] www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[6] Vgl. Rashomon 1950, 00:02:00 – 00:07:40
[7] Griem 2000, S. 317
[8] Vgl. Rashomon 1950, ab 00:11:35
[9] Vgl. Abb. 3
[10] Vgl. Rashomon 1950, 00:13:32 – 00:14:19
[11] Boyd 1989, S. 61
[12] Griem 2000, S. 317
[13] In topographischer Hinsicht ist er, wie erwähnt, in allen Geschichten der Figuren gleich und deshalb an dieser Stelle als ein einziger Raum gefasst – wobei es sinnvoll ist, jeder einzelnen Figur und ihrer Geschichte in diesem Wald einen eigenen semantischen Raum zuzuweisen.
[14] Boyd 1989, S. 54
[15] Vgl. Rashomon 1950, 00:07:50 – 00:11:30 u. 00:22:50 – 00:24:30
[16] Griem 2000, S. 317
[17] Vgl. Abb. 4-6
[18] Griem 2000, S. 317
[19] Vgl. Abb. 7
[20] Vgl. Abb. 8 u. 9
[21] Vgl. Rashomon 1950, 00:07:41 – 00:11:32
[22] Vgl. ebd., 00:12:25 – 00:15:15
[23] Vgl. ebd., 00:31:00 – 00:32:15
[24] Vgl. Rashomon 1950, 00:34:56 – 00:35:15
[25] Vgl. Abb. 10 u. 11
[26] Vgl. Rashomon 1950, 00:35:20 – 00:36:10
[27] Vgl. ebd., 00:38:30 – 00:39:05
[28] Vgl. ebd., 00:39:10 – 00:48:50
[29] www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[30] Vgl. Rashomon 1950, 00:53:30 – 00:54:45
[31] www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/metzler_filmlexikon/metzler_filmlexikon.pdf
[32] Vgl. Rashomon 1950, 01:03:00 – 01:04:00
[33] Vgl. ebd., 01:06:12 – 01:08:12
[34] Vgl. ebd., 01:12:00 – 01:13:20
[35] www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[36] Vgl. Abb. 12
[37] Vgl. Rashomon 1950, 01:25:30 – 01:26:30
[38] Vgl. Rashomon 1950, 00:11:20 – 00:11:40
[39] Vgl. ebd., 00:12:20 – 00:12:30
[40] Hier werden gleich sechs der insgesamt neun Räume eingeführt – dementsprechend wird eine Fülle von Informationen bereitgestellt.
[41] Vgl. Rashomon 1950, 00:52:50 – 00:54:00
[42] Vgl. ebd., 00:26:20 – 00:31:30
[43] Vgl. ebd., 00:49:16 – 00:50:50
[44] Der Holzfäller, der Mönch, der Landstreicher, der Bandit, der Samurai und dessen Frau sind die Hauptfiguren. Nebenfiguren sind die Totenbeschwörerin sowie der Mann, der Tajomaru überführt – insgesamt sind also acht Figuren im Film vorhanden.
[45] Vgl. Rashomon 1950, 01:04:00 – 01:13:00
[46] Vgl. Bordwell/Thompson 2008, S. 80
[47] Der „Plot“ eines Films meint alle Dinge, die in diesem sicht- und hörbar sind. Er fasst damit zum einen die Story, zum anderen alles, was außerhalb dieser zu finden ist wie etwa die Credits am Ende eines Films, dessen musikalische Untermalung etc. – vgl. dazu Bordwell/Thompson 2008, S. 76 f.
[48] Die „Story“ bezeichnet im Film präsentierte Ereignisse oder Verhältnisse, die zum einen innerhalb der filmischen Handlung präsentiert werden, zum anderen implizit vom Rezipienten angenommen werden. – vgl. dazu wiederum Bordwell/Thompson 2008, S. 76
[49] Vgl. Bordwell/Thompson 2008, S. 80
[50] Baraldi et al. 1997, S. 96
[51] Vgl. Bordwell/Thompson 2008, S. 89
[52] Vgl. Iser 1971, S. 11
[53] Ebd., S. 12
[54] Ebd., S. 15
[55] Boyd 1989, S. 62
[56] Vgl. Rashomon 1950, 00:36:50 – 00:38:25
[57] Vgl. Rashomon 1950, 00:49:10 – 00:50:10
[58] Vgl. Bordwell/Thompson 2008, S. 79
[59] www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[60] Vgl. Iser 1971, S. 24
[61] http://www.uni-weimar.de/medien/bildmedien/lehre/ss2005/Skript.Vorl.ZweiteModerne.pdf
[62] Vgl. Richie 1972, S. 5
[63] Vgl. Boyd 1989, S. 67
[64] http://www.rabbiteye.de/2010/1/orth_blick_auf_realitaet.pdf
[65] Vgl. Rashomon 1950, 00:13:55 – 00:14:05 u. 00:47:55 – 00:48:10
[66] Griem 2000, S. 318
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2013
- ISBN (PDF)
- 9783958206977
- ISBN (Paperback)
- 9783958201972
- Dateigröße
- 5 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1
- Schlagworte
- Filmanalyse Multiperspektive Film Erzählstrategie Komplexitätsaufbau