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E.T.A. Hoffmann und der künstliche Mensch: Analyse der Automatenfiguren in „Der Sandmann“ und „Die Automate“

©2009 Bachelorarbeit 56 Seiten

Zusammenfassung

Die Thematik des künstlichen Menschen faszinierte im 18. Jahrhundert ganz Europa. Insbesondere die Automatenfiguren von Jacques de Vaucanson (der Flötenspieler; die mechanische Ente) und Wolfgang von Kempelen (Schachtürke) sorgten für Aufsehen und reichlich Gesprächsstoff. Auch der Schriftsteller E.T.A. Hoffmann (1776-1822) ist der „Faszination Automaten“ erlegen und griff die Thematik Anfang des 19. Jahrhunderts in zahlreichen seiner Werke auf. Das vorliegende Buch widmet sich zwei davon in aller Ausführlichkeit und analysiert die Automatenfiguren Olimpia („Der Sandmann“) und den sprechenden Türken („Die Automate“), charakterisiert die Automatenbauer Coppola/Coppelius, Professor Spalanzani und Professor X. und gibt umfangreiche Einblicke in die philosophischen Denkweisen zur Thematik „künstlicher Mensch“ von René Descartes bis Julien Offray de La Mettrie.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Künstliche Menschen in der Literatur

Zwar soll es schon vor dem 18. Jahrhundert künstliche Menschen in der Literatur gegeben haben,[1] doch einen verstärkten Eingang in dieselbe fand das Thema erst im späten 18. Jahrhundert, wie Helmut Swoboda schreibt, „im Gefolge der Philosophen und Mechaniker, vor allem La Mettries und Vaucansons.”[2], als auch der technische Fortschritt zum vermehrten Bau von Automaten führte.

Als das Thema in der Literatur aktuell wurde, waren die Androiden-Konstruktionen an einem Punkt, an dem sie dem Menschen immer ähnlicher wurden und sie nahezu perfekt wirkten. Besonders die romantischen Autoren bedienten sich der Thematik der Maschinenmenschen.[3] Interessanterweise war in der Romantik, also der Hochzeit der Androiden-Literatur, die Zeit in der die Erfindungen der Automaten für Gesprächsstoff sorgten, schon längst wieder vorbei.[4] Zur Verdeutlichung seien noch einmal die Daten der Automatenerfindungen erwähnt: Der Flötenspieler und die mechanische Ente von Vaucanson wurden 1737 und 1738 gebaut, während die berühmtesten Automaten von Pierre und Henri-Louis Jaquet-Droz 1775 in Paris vorgestellt wurden. Der ominöse Schachtürke von Wolfgang von Kempelen wurde 1769 der Öffentlichkeit vorgestellt. Er nimmt unter den genannten Automaten eine Sonderstellung ein, da über ihn nicht nur jahrzehntelang diskutiert wurde, sondern auch seine literarischen Folgen noch lange über die Zeit der Romantik hinaus andauerten. Zu nennen sind beispielsweise die Theaterstücke „Die Schachmaschine” (1798) von Heinrich Beck und „Le Joueur d’Echecs” (1801) von Benoit-Joseph Marsollier.[5]

Erwähnenswert ist auch der kritische Artikel „Maelzel’s Chess Player”, den Edgar Alan Poe 1836 veröffentlichte, nachdem er 1834 den Schachtürken von Kempelens, der nach seinem Tod in den Besitz von Nepomuk Maelzel überging , gesehen hatte. Der Artikel enthält eine logische Herleitung Poes, warum der Schachtürke ein Trickautomat sein müsse.[6]

Wieder in Form eines Theaterstücks fand der Schachtürke 1866 in dem Werk „Modus Operandi or The Automaton Chess Player” von J. Walker Eingang in die Literatur.[7] 1881 erschien in Warschau die Novelle „Szach I mat!” von Ludwik Niemojowski. Sie wurde 1967 verfilmt, ein Beweis, dass selbst im 20. Jahrhundert der Schachtürke durchaus noch ein Thema war. Dies zeigt auch der Roman „Le Joueur d’Echecs” von Henry Dupuy-Mazuel, der 1926 erschien und den Kempelen’schen Automaten ebenso behandelt wie die Novelle „Die Majestätsbeleidigung” von Reinhard Rebensburg (1949), der Roman „Kempelen, a varázsló” (Kempelen der Zauberer, 1957) von Szlatnei Resznö und der Roman „Kingkill” (1977) von Thomas Garvin.[8]

Nichtsdestotrotz war die Romantik die Hochzeit, wenn es um die Thematik des künstlichen Menschen in der Literatur geht. So findet man gleich in mehreren Werken des Autors Achim von Arnim das Motiv des künstlichen Menschen. In „Gräfin Dolores” (1810) treten mit dem Flötenspieler und einer mechanischen Ente gleich zwei Androiden auf, die an die Automaten von Vaucanson erinnern. In „Isabella von Ägypten” (1812) führt Arnim mehrere künstliche Menschen, darunter einen lebenden Toten und einen weiblichen Golem, an, während er in „Maria Melück Blainville” (1812) eine Puppe lebendig werden lässt.[9] Weitere Werke aus der Romantik mit der Thematik des künstlichen Menschen sind Ludwig Tiecks „Willian Lovell” (1795/1796), Clemens Brentanos und Joseph Görres’ „Wunderbare Geschichte von BOGS dem Uhrmacher” (1807), Brentanos Komödie „Ponce de Leon” (1801) und sein Märchen „Gockel, Hinkel und Gackeleia” (1811),[10] aber auch Mary Shelleys weltberühmter Roman „Frankenstein” (1817).[11]

Neben den genannten romantischen Autoren ist besonders Jean Paul erwähnenswert, in dessen Schriften die Thematik des künstlichen Menschen eine zentrale Position einnimmt[12], und das bereits vor Beginn der Romantik. Durch seine provokanten Titel wie „Der Maschinenmann” oder „Menschen sind Maschinen der Engel” (1785), versuchte er, wie Ulrich Hohoff festhält, „das Leserinteresse [...] auf [...] das problematische Verhältnis Mensch-Maschine”[13] zu lenken. Festzuhalten ist diesbezüglich, dass es sich bei Jean Pauls Schriften nicht um eine künstliche Gestaltung des Themenkomplexes handelt. Vielmehr „glossierte”[14] er die neu aufkommende Thematik der Automaten.

Auch nach dem Ende der Romantik war die Thematik des künstlichen Menschen in der Literatur beliebt, wie bereits am Beispiel der literarischen Verarbeitung des Schachtürken gezeigt wurde. Weitere postromantische Werke mit der Androiden-Thematik sind Villiers de l’Isle-Adams „Die Eva der Zukunft” (1886) und Karel Čapeks Bühnenwerk „W.U.R” (Werstands Universal Roboter, 1920).

In „Eva der Zukunft” geht es um die Konstruktion einer künstlichen Frau. Die Erzählung ist, wie man vielleicht annehmen könnte, kein Lobgesang auf die neue Technik, sondern „vielmehr eine bitterböse Satire gegen [...] die mechanische Nachahmung menschlicher Eigenschaften durch größenwahnsinnige Erfinder.”[15]

In „W.U.R” wird nun erstmals in der Literatur die Roboter-Thematik aufgenommen. Čapek soll sogar den Begriff des Roboters erfunden haben.[16] In der Erzählung geht es um einen Erfinder namens Werstand, der Roboter erschafft, die als Fabrikarbeiter eingesetzt werden sollen. Eines Tages werden jedoch Roboter erschaffen, die zu intelligent geworden sind. Sie beginnen zu revoltieren und rotten letztendlich die Menschen aus.[17]

Zuletzt sind noch zwei Werke des französischen Autors Pierre Henri Cami zu nennen, der auf unterschiedliche Art an die Thematik des künstlichen Menschen herangeht. Im Roman „Les mystères de la Fôret-Noires” (Rätsel im Schwarzwald, 1916) bekämpfen zwei französische Soldaten einen deutschen Wissenschaftler, der im Inbegriff ist, Androiden zu erschaffen, die im Krieg eingesetzt werden könnten. Am Ende des Romans werden diese vermeintlich gefährlichen Automaten von den Soldaten vernichtet.[18] Das Automatenmotiv wird in diesem Fall von Cami negativ angewendet. Eine ganz andere Anwendung des Motivs findet sich in seinem Werk „Les exploit du baron de Crac”[19] (1925). Dort erzählt der Protagonist Baron de Crac einigen Zuhörern von seinen vermeintlichen Abenteuern.[20] In dem Text „Automate par amour”[21] schafft es Baron de Crac durch die Vortäuschung, dass er ein Automat sei, bei seiner verheirateten Geliebten Marquise einzuziehen und so die Affäre mit ihr weiterzuführen:

Mit dem Ziel, sich bei [...] Marquise einzunisten, spiegelt der Baron de Crac vor, er sei sein eigener automatenhafter Doppelgänger, und betreibt unter diesem Deckmantel eine amouröse Affäre. Das von Vaucanson verfertigte Wunderwerk, das dem Baron aufs Haar gleicht, spielt allerdings in der weiteren Handlung keine Rolle mehr. [...] Auf Bitten der Marquise überlässt er ihr den Automaten leihweise, der allerdings sofort in einem geheimen Schrank versteckt wird. Auf diese Weise kann der Baron die Stelle des Automaten einnehmen und bei seiner Geliebten verweilen.[22]

Das Besondere an diesem Werk ist, dass hier ein Mensch einen Automaten nachahmt und nicht ein Automat einen Menschen. Eigentlich ist in diesem Werk sogar eine doppelte Nachahmung enthalten, denn „der Mensch [ahmt] die Maschine nach, die zur Nachahmung des Menschen entwickelt wurde.”[23] Neben diesem Aspekt ist festzuhalten, dass in dem Werk keine negative Betrachtung des Automatenmotivs stattfindet. Der Automat wird vielmehr benutzt, um für das persönliche Vergnügen des Protagonisten zu sorgen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass gerade die Romantik das Zeitalter für Literatur über den künstlichen Menschen und im Besonderen über Automaten war. Aber auch vor und nach der Romantik findet sich diese Thematik in der Literatur. Die genannten Werke sollten nur einen groben Überblick geben und zeigen, dass das Motiv des künstlichen Menschen in der Literatur weit verbreitet ist.

Was alle Werke, außer das letztgenannte von Cami, mit der Thematik des künstlichen Menschen gemeinsam haben, ist die negative Betrachtung des Motivs. Meist geht es, besonders in der Romantik, wie Rudolf Drux festhält, um „Seelenlosigkeit, zwanghaftes Verhalten und Fremdbestimmung”.[24] Nicht selten lehnen sich die Automaten oder Roboter gegen ihre Schöpfer auf und bringen sie um.

Ein Vertreter, der die Thematik des künstlichen Menschen häufig in seinen Werken benutzte und bisher bei der Erwähnung der Literatur absichtlich ausgespart wurde, ist E.T.A. Hoffmann. Das Automatenmotiv nimmt in seinem Werk eine zentrale Rolle ein. Deswegen wird im nächsten Kapitel ein besonderes Augenmerk auf ihn und seine Schriften gerichtet.

4. Die Automatenthematik bei E.T.A. Hoffmann

Das Automatenmotiv nimmt im Werk Hoffmanns eine zentrale Position ein. Dieses Motiv, zu dem nach Ulrich Hohoff nicht nur die Automaten, sondern auch Marionetten, Puppen oder Golems zählen,[25] kommt neben den später näher betrachteten Werken „Der Sandmann” und „Die Automate” unter anderem auch in „Die Jesuiterkirche zu G.”, „Nussknacker und Mausekönig”, „Kater Murr”, „Prinzessin Brambilla” und „Meister Floh” vor.[26]

Hoffmann, der 1776 in Königsberg geboren wurde, hat sich intensiv mit der Thematik der Automaten beschäftigt. Das belegen, laut Ulrich Hohoff, nicht nur seine Tagebucheinträge.[27] Er soll 1801 in Danzig und 1813 in Dresden Automatenfiguren in Natura gesehen haben, darunter auch solche der Gebrüder Kaufmann.[28] Die Brüder Johann Georg und Friedrich Kaufmann zählten zu den bekanntesten Automatenbauern zu Hoffmanns Zeit. Friedrich Kaufmann arbeitete eine Zeit lang als Gehilfe der Brüder Maelzel.[29] Einer der Brüder, Nepomuk Maelzel, war nach dem Tod von Kempelens in den Besitz des bekannten und lange diskutierten Schachtürken gekommen (siehe Kapitel 3).

Die Automaten, die sich Hoffmann nicht vor Ort anschauen konnte, hat er in der zwanzigbändigen Buchreihe „Die natürliche Magie” von Johann Christian Wiegleb gesehen. Die Buchreihe erschien ab 1782 und enthielt Abbildungen der berühmtesten Automatenfiguren des 18. Jahrhunderts, darunter beispielsweise den Vaucanson’schen Flötenspieler oder aber von Kempelens Schachtürken.[30] Letztgenannter scheint als Vorlage für die Automatenfigur in „Die Automate” gedient zu haben.[31]

Im 18. und 19. Jahrhundert waren Automatenfiguren, wie bereits an anderer Stelle dargestellt, ein Thema, das nicht nur in aller Munde war, sondern auch von vielen Autoren aufgenommen wurde. Neben der Aktualität des Themas und der Faszination an der Technik, versucht der Literaturwissenschaftler Lothar Pikulik weitere Gründe für die Faszination von Hoffmann und seinen Autorenkollegen an der Automatenthematik zu nennen:

Die Faszination beruht auf mehrerlei: auf dem grausigen Doppelsinn eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens (330), der an solchen Figuren offenbart wird; auf ihrer skurrilen Wirkung, die sich aber mit dem Grauen, das von ihnen ausgeht, die Waage hält; und wohl auch auf einem in ihnen manifest werdenden Menschheitstraum, der gerade das moderne Bewußtsein bewegt, nämlich den künstlichen Menschen zu schaffen, einen Traum, mit dessen Verwirklichung das Geheimnis des Lebens gelöst wäre.[32]

Die Figuren, die Hoffmann in seinen Werken verwendet, zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie unterschiedliche Fähigkeiten besitzen, je nachdem, um was für eine Figur es sich handelt. So können einige Figuren nur liegen und andere sogar einen Menschen fast perfekt imitieren. Die Puppe Olimpia aus dem „Sandmann”, die später noch näher betrachtet wird, kann beispielsweise sprechen, allerdings nur das eine Wort „Ach!” und den Satz „Gute Nacht, mein Lieber!”. Dem sprechenden Türken aus „Die Automate” werden sogar die Fähigkeiten des Denkens und des Hellsehens zugeschrieben.[33]

Neben der Vielseitigkeit der Fähigkeiten der Automatenfiguren, zeichnet sich deren Kontext durch ein sehr festes Schema aus. Ulrich Hohoff hält fest, dass sich im Kontext der Figuren Dinge wie Scheinlebendigkeit, Starre, Beschränkung, Trug, Grauen oder Lächerlichkeit abspielen.[34] Eine einheitliche Wertung der Automatenfiguren und ihrer Meister, sieht Hohoff allerdings nicht. Mal bewerte Hoffmann positiv und mal negativ.[35] Ausgehend von dieser These soll in den nächsten beiden Kapiteln unter anderem der Frage nachgegangen werden, wie die Wertung der Automatenfiguren und ihrer Meister durch Hoffmann in „Die Automate” und „Der Sandmann” ausfällt.

Vorher sei allerdings noch ein kleiner Exkurs erlaubt, der kurz auf die sozialen und politischen Horizonte zwischen 1750-1820[36], also der Hochzeit der Automaten und dem Erscheinen von Hoffmanns Werken, eingeht. Denn das 18. Jahrhundert kann getrost als ein Jahrhundert der Wissenschaft bezeichnet werden. Zwei Wissenschaftszweige standen sich gegenüber: Die mechanistische und die elektrische beziehungsweise magnetische Physik. Im Laufe der Zeit kamen beide Zweige in ein Spannungsverhältnis zueinander, bis man irgendwann die mechanistische Physik als aufklärerischen Wissenschaftszweig ansah und die elektrische beziehungsweise magnetische Physik als romantischen Zweig.[37] Auch literaturhistorisch fallen die Aufklärung (1680-1795) und die Romantik (1795-1840) in diese Zeit.[38] Während in der Aufklärung vor allem rationalistische Sichtweisen im Vordergrund standen, wurde in der Romantik das Individuelle betont.[39]

In sozialhistorischer Sicht ist vor allem die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommende Industrialisierung und die damit einhergehende Einführung maschineller Produktion zu erwähnen, die Hoffmann in seinen Werken verarbeitete und kritisierte.[40] Auch die Französische Revolution im Jahre 1789, die die aufklärerischen Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit realisieren wollte, fällt in diese Zeit.[41]

5. Automatenfiguren in „Die Automate”

5.1. Die Erzählung „Die Automate”

Die Erzählung „Die Automate“ aus dem Jahre 1814 erschien zu einer Zeit, in der die große Zeit der Automatenbaukunst eigentlich schon wieder vorbei war. Helmut Swoboda nennt diese Zeit gar die „,Nachklassik’ der Automatenbaukunst”[42] und weist darauf hin, dass es sich bei dem Titel um den Plural des Nomens Automate handele[43], wobei damit gleich ein Hinweis gegeben ist, dass in der Erzählung mehr als ein Automat vorkommt. Kurz bevor Hoffmann die Erzählung schrieb, hatte er in Dresden die Kaufmann’schen Automaten gesehen (siehe Kapitel 4). Darunter sollen auch Musikautomaten, wie eine Frau am Klavier oder ein Trompeter gewesen sein.[44] Lothar Pikulik zeigt anhand eines Briefes von Hoffmann (an den Schriftsteller Friedrich Rochlitz), dass „Die Automate“ durchaus autobiografisch geprägt ist: „Die Entscheidung am Kurischen Haff, so wie manches andere in dem Aufsatze ist Reminiscens aus meine[m] frühere[n] Leben in Ostpreuße[n]“[45]

5.1.1. Inhalt

In der Erzählung „Die Automate” geht es um einen Automaten, der der „sprechende Türke” genannt wird und stark an den Schachtürken von Wolfgang von Kempelen erinnert. Der „sprechende Türke” zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht nur, wie andere Automaten, gestikulieren und atmen, sondern scheinbar auch denken kann: Tritt eine Person mit einer Frage an ihn heran, flüstert er die Antwort in das Ohr des Fragenden. Das Besondere daran ist, dass die Antworten auf den Fragenden individuell zugeschnitten zu sein scheinen.

In den Abendgesellschaften des 19. Jahrhunderts wurde „der Türke” stets diskutiert. Auch die beiden Freunde Lothar und Ferdinand, zwei Protagonisten der Erzählung, diskutierten bei solchen Abendgesellschaften über diesen Automaten. Ludwig stellt klar, dass ihm alle Figuren, die den Menschen nachahmen, zuwider seien[46], während Ferdinand wenigstens im Vorfeld von dem scheinbaren Sehergeist des Automaten beeindruckt ist und sich selbst einmal davon überzeugen möchte.[47] Am nächsten Morgen gehen Ludwig und Ferdinand sich den Automaten anschauen und stellen ihn auf die Probe. „Der sprechende Türke” gibt an diesem Tag jedoch nur bedeutungslose Antworten, bis Ferdinand an der Reihe ist, um ihm eine Frage zu stellen. Die Antwort des Türken bleibt zunächst geheim, doch sie ist so treffend, dass Ferdinand vor erstaunen erblasst. Später erzählt er seinem Freund Ludwig, was es mit der Antwort auf sich hatte. Der Türke hat nämlich durch seine Antwort gezeigt, dass er von Dingen weiß, die Ferdinand nie einem Menschen vorher erzählt hatte: Mehrere Jahre zuvor war Ferdinand in Ostpreußen unterwegs, als er in einer Nacht eine Frau eine Arie singen hörte und sich in sie verliebte. Am nächsten Tag merkte Ferdinand, dass die Unbekannte in dem Zimmer neben ihm übernachtet hatte, machte aber keine nähere Bekanntschaft mit ihr. Nach dieser Begegnung malte Ferdinand ein Bild von der Sängerin, das er seitdem in einem Amulett unter seinem Hemd trug. Den Türken nun fragte Ferdinand diese Geschichte betreffend: „Werde ich künftig noch einen Moment erleben, der dem gleicht, wo ich am glücklichsten war?”[48] Der Türke sah durch Ferdinands Hemd hindurch das Amulett und sprach: „Unglücklicher! In dem Augenblick, wenn du sie wiedersiehst, hast du sie verloren!”[49] Nachdem Ferdinand seinem Freund die Geschichte erzählt hat, beschließen sie, dem „sprechenden Türken” auf den Grund zu gehen, und besuchen Professor X., den Bauer der Figur. Dieser beherbergt ein ganzes Orchester von Automatenfiguren, die den Automaten von Pierre und Henri Jaquet-Droz ähneln. So gibt es beispielsweise einen Flötenspieler oder auch eine Frau am Klavier. Professor X. führt den beiden die Automaten vor, doch ihnen gefällt die künstliche Maschinenmusik nicht, so dass sie den Professor verlassen, bevor sie das Geheimnis um den „sprechenden Türken” gelöst haben. Die Freunde beschließen den Professor am nächsten Tag erneut zu besuchen, um das Rätsel zu lösen, doch dazu kommt es nicht. Ferdinand hatte Post von seinem Vater bekommen und musste dringend nach Ostpreußen reisen. Nach zwei Monaten erhielt Ludwig einen Brief von seinem Freund, indem er ihm schildert, dass er die Sängerin wieder getroffen habe, und zwar bei ihrer eigenen Hochzeit. Als die Sängerin Ferdinand erblickte, sei sie ohnmächtig geworden und zusammengebrochen. Der Mann, der sie auffing, soll Professor X. gewesen sein. Das Mysteriöse daran ist, dass dieser die Stadt nie verlassen haben soll. Somit scheint der Spruch des Türken in Erfüllung gegangen zu sein. Eine Aufklärung, wie der Türke funktioniert und was es mit den mysteriösen Begebenheiten, beispielsweise um Professor X. oder die Sängerin, auf sich hat, gibt es nicht. Vielmehr stellt sich am Ende der Erzählung heraus, dass es sich um eine Erzählung in der Erzählung handelt, denn auf einmal kommen drei andere Figuren, Ottmar, Theodor und Lothar, zu Wort, die über die Geschichte diskutieren. Dies resultiert aus der Einbindung der Erzählung in das Werk „Die Serapions-Brüder“. Dabei kommt heraus, dass Theodor, der diese Geschichte gerade erzählt hat, sie extra fragmentarisch gehalten hat, da es ihr Zweck war, die Fantasie des Zuhörers anzuregen:

Nichts ist mir mehr zuwider als wenn in einer Erzählung, in einem Roman, der Boden, auf dem sich die fantastische Welt bewegt hat, zuletzt mit dem historischen Besen so rein gekehrt wird, daß auch kein Körnchen, kein Stäubchen bleibt, wenn man so ganz abgefunden nach Hause geht, dass man gar keine Sehnsucht empfindet noch einmal hinter die Gardinen zu gucken.[50]

5.1.2. Erzählperspektive

Die auktoriale Erzählperspektive dominiert in der Geschichte. Der Erzähler ist allwissend, schildert was passiert und gibt Wertungen und Kommentare.

Am Ende des Textes ergeben sich noch zwei Besonderheiten: Erstens sind die letzten sechs Zeilen der eigentlichen Automaten-Erzählung auf einmal aus der Perspektive Ludwigs geschrieben:

Wie, dachte er, wenn es nur die Resultate des Konflikts wunderbarer psychischer Beziehungen, [...] wären, die in das Leben traten [...]. Doch vielleicht tritt künftig die frohe Ahnung ins Leben, die ich in meinem Innern trage, und die meinen Freund trösten soll! Der verhängnisvolle Spruch des Türken ist erfüllt, und vielleicht gerade durch diese Erfüllung der vernichtende Stoß abgewendet, der meinem Freunde drohte.[51]

Ich schreibe von der eigentlichen Automaten-Erzählung, da sich ganz am Ende der Geschichte herausstellt, dass es sich um eine Erzählung in der Erzählung handelt, die von einem Erzähler namens Theodor geschildert wurde. Renate Böschenstein betont die Modernität von Hoffmanns Art zu erzählen, da durch den am Ende entstehenden Fragmentscharakter ohne Auflösung der Rätsel, der Leser zum Nachdenken angeregt werde.[52]

[...]


[1] Man denke etwa an die „sprechenden Köpfe” im Mittelalter. Für eine ausführlichere Betrachtung vgl. Swoboda, S.33ff. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass es nicht als Aufgabe des Kapitels gesehen wird, den Inhalt der genannten Werke zu erläutern. Wenn dies geschieht, dann nur, um mögliche Motive der Automatenthematik hervorzuheben. Das Kapitel soll vielmehr zeigen, dass das Motiv des künstlichen Menschen in der Literatur weit verbreitet ist.

[2] Swoboda 1967, S.212.

[3] Vgl. Hohoff 1988, S.335.

[4] Vgl. Drux 1988, S. 86f.

[5] Vgl. Mraček 2004, S.118.

[6] Vgl Mraček 2004, S.118, Swoboda 1967, S.222f.

[7] Vgl. Mraček 2004, S.118ff.

[8] Vgl. Mraček 2004, S.119.

[9] Vgl. Swoboda 1967, S.217f.

[10] Vgl. Hohoff 1988, S.335.

[11] Vgl. Swoboda 1967, S.220ff.

[12] Vgl. Swoboda 1967, S.212.

[13] Hohoff 1988, S.335.

[14] Vgl. Swoboda 1967, S.212.

[15] Swoboda 1967, S.225.

[16] Vgl. Swoboda 1967, S.226.

[17] Swoboda 1967, S.226f.

[18] Vgl. Lohse 2005, S.132.

[19] Übersetzt: Die Heldentaten des Baron de Crac.

[20] Vgl. Lohse 2005, S.133.

[21] Übersetzt: Automat für die Liebe.

[22] Lohse 2005, S.135.

[23] Lohse 2005, S.136.

[24] Drux 1988, S.87.

[25] Vgl Hohoff 1988, S.335.

[26] Vgl. Grob 1984, S.69f., Hohoff 1988, S.335.

[27] Vgl. Hohoff 1988, S.334.

[28] Vgl Feldges/Stadler 1986, S.140, Pabst 1986, S.56, Pikulik 1987, S.117.

[29] Vgl. Mraček 2004, S.122.

[30] Vgl. Hohoff 1988, S.334.

[31] Näheres dazu in Kapitel 6.

[32] Pikulik 1987, S.118.

[33] Vgl. Grob 1984, S.73f.

[34] Vgl. Hohoff 1988, S.335.

[35] Vgl. Hohoff. 1988, S.335.

[36] Der Beginn der Jahreszahlen wurde auf 1750 festgelegt, da zu der Zeit vermehrt Automaten konstruiert wurden, das Ende des Zeitraumes orientiert sich an der Entstehungszeit von Hoffmanns Erzählungen.

[37] Vgl. Feldges/Stadler 1986, S.141.

[38] Vgl. Jessing/Köhnen 2003, S.25ff, eine ausführlichere Darstellung der Aufklärung und der Romantik findet sich dort ebenso.

[39] Vgl. Jessing/Köhnen 2003, S.34.

[40] Vgl. Haupt 2002, S.319.

[41] Vgl. Jessing/Köhnen 2003, S.33.

[42] Swoboda 1967, S.216.

[43] Vgl. Swoboda 1967, S.216.

[44] Vgl. Pikulik 1987, S.117.

[45] Pikulik 1987, S.118.

[46] Die Automate, S.330.

[47] Die Automate, S.332.

[48] Die Automate, S.337.

[49] Die Automate, S.338.

[50] Die Automate, S.355.

[51] Die Automate, S.354.

[52] Böschenstein 1997, S.173.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2009
ISBN (PDF)
9783958207424
ISBN (Paperback)
9783958202429
Dateigröße
822 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Nachtstück Schachtürke Jacques de Vaucanson Coppola Julien Offray de La Mettrie

Autor

Christine Konkel wurde 1986 in Witten geboren. Ihr Studium der Germanistik (Schwerpunkt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) sowie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schloss die Autorin im Jahre 2009 mit dem Bachelor of Arts erfolgreich ab. Seit 2007 arbeitet die Autorin journalistisch, seit 2013 als Redakteurin.
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Titel: E.T.A. Hoffmann und der künstliche Mensch: Analyse der Automatenfiguren in „Der Sandmann“ und „Die Automate“
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