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Werkstätten und Inklusion

Eine inhaltsanalytische Betrachtung der Debatten zur Inklusionsfrage bei Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)

©2013 Masterarbeit 136 Seiten

Zusammenfassung

Ziel dieser Arbeit ist die Erstellung eines theoriegeleiteten Maßstabes als Analyse- und Entwicklungsinstrument zur Umsetzung von Inklusion in Werkstätten für behinderte Menschen. Dazu werden verschiedene Textquellen der Debatten zur Inklusionsfrage von Werkstätten für behinderte Menschen inhaltsanalytisch betrachtet und theoretisch essentielle Begriffe wie Inklusion, Selbstbestimmung und Empowerment sowie Teilhabe am Arbeitsleben, am Leben und in der Gemeinschaft definiert.
Aus der Theorie und den Ergebnissen der inhaltsanalytischen Betrachtung werden in Anlehnung an den Index für Inklusion von Boban & Hinz Kategorien abgeleitet, aus denen sich der theoriegeleitete Maßstab als Analyse- und Entwicklungsinstrument zusammensetzt. Dieser wird exemplarisch an ausgewähltem Textmaterial angewendet.
Ferner wird in der inhaltsanalytischen Betrachtung und der Darstellung der verschiedenen Sichtweisen aus der Debatte zur Inklusionsfrage der Werkstätten für behinderte Menschen deutlich, dass noch großer Entwicklungs- und Reformbedarf inner- und außerhalb solcher Einrichtungen besteht und noch lange nicht alle Potentiale zur Umsetzung von Inklusion ausgeschöpft wurden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


V
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb.: 1: Komponenten von Gesundheit, klassifiziert nach der ICF ... 4
Abb.: 2: Entwicklung der Zahlen schwerbehinderter Menschen (Quelle:
Bundesagentur für Arbeit 2013)... 5
Abb.: 3: Entwicklung der Werkstattplätze der Mitglieder der BAG: WfbM (Quelle
der Zahlen: BMAS und BAG:WfbM) ... 6
Abb.: 4: Inklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme ... 14
Abb.: 5: Überblick Teilhabeleistungen im SGB IX ... 15
Abb.: 6: Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im SGB IX ... 16
Abb.: 7: Leistungen zur Teilhabe am Leben und in der Gemeinschaft im SGB IX . 17
Abb.: 8: Psychosoziale Funktionen von Erwerbsarbeit nach Semmer & Udris 1993
... 20
Abb.: 9: Reformpotentiale der Eingliederungshilfe für beeinträchtigte Menschen .. 27
Abb.: 10: Sozialrechtliches Dienstleistungsdreieck ... 29
Abb.: 11: Sozialrechtliche Dienstleistungsbeziehung Persönliches Budget ... 29
Abb.: 12: Anzahl der erfassten Persönlichen Budgets örtlicher und überörtlicher
Träger der Sozialhilfe, im Jahr 2010 ... 30
Abb.: 13: Stufenmodell der binnendifferenzierten beruflichen Bildung nach Hirsch
2006 ... 35
Abb.: 14: Aktivitäten von WfbM im Markt nach Walter 2009 ... 37

1
EINLEITUNG
EINLEITUNG
In meiner beruflichen Praxis als Fachberaterin des Integrationsfachdienstes im Land
Brandenburg für den Landkreis Barnim sehe ich täglich mit der Tatsache konfron-
tiert, dass Inklusion ein Prozess ist, der, beispielsweise in bisherigen etablierten Son-
dereinrichtungen wie Förderschulen mit Schwerpunkt geistige Entwicklung und
Werkstätten für behinderte Menschen, teilweise noch gar nicht begonnen hat. Gerade
letztere zeigt kaum Strukturen einer Übergangsförderung und meine Beratungskom-
petenz beispielsweise in der beruflichen Sicherung, die diese Übergänge aus gesetz-
licher Sicht nach SGB IX unterstützen und begleiten könnte, wird hier so gut wie gar
nicht angefragt. Daraus leitet sich die Forschungsfrage dieser Arbeit ab, sind Werk-
stätten für behinderte Menschen ein Ort der Inklusion?
Die der Arbeit zu Grunde liegende Hypothese lautet aus meiner bisherigen Erfahrung
schlussfolgernd, dass die Umsetzung von Inklusion in Werkstätten für behinderte
Menschen (WfbM) in dem Sinne, dass sie ihren WerkstattmitarbeiterInnen den Zu-
gang zu allen Gesellschaftsystemen, insbesondere Teilhabe am Arbeitsleben sowie
Teilhabe am Leben und in der Gemeinschaft ermöglicht und fördert, noch nicht prak-
tiziert wird bzw. noch erhebliches Entwicklungspotential schlummert. Es wird in
Anlehnung an Bungart
2
von BAG Unterstützte Beschäftigung vermutet, dass ledig-
lich altbewährte Abläufe und Prozesse im Zuge der UN-
Behindertenrechtskonvention 2009 umbenannt wurden und es sich um einen reinen
Etikettenschwindel
3
handelt, der bei genauerer Betrachtung die WfbM weiterhin als
Sonderwelt identifiziert.
Zur Erarbeitung dessen sollen im ersten Kapitel bedeutsame theoretische Begriffe
wie Inklusion, Selbstbestimmung und Empowerment sowie Teilhabe definiert wer-
den. Im Anschluss daran werde ich die relevante Literatur sowie aktuelle Dokumente
der letzten 10 Jahre inhaltsanalytisch betrachten. Dokumente sind hier Artikel, News,
Reformentwürfe, Forendiskussionen und Blogbeiträge, Konzepte, Gesetztestexte und
­vorlagen, um die aktuellen Sichtweisen herausarbeiten zu können.
2
Walter 2010, S. 193.
3
Ebd. 2010, S. 193.

2
EINLEITUNG
Aus dem methodisch nach der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring
4
gewonnene
Material sollen Kategorien gebildet und ein theoriegeleiteter Maßstab als Analyse-
und Entwicklungsinstrument für die WfbM erarbeitet werden. Dieser wird dann
exemplarisch an ausgewähltem Textmaterial Anwendung finden.
Der Ausblick beinhaltet Anregungen für die weitere Verwendung des theoriegeleite-
ten Maßstabes und zeigt Entwicklungspotentiale auf.
4
Mayring 2003, S. 58ff.

3
1 THEORETISCHER RAHMEN
1 THEORETISCHER RAHMEN
Im theoretischen Rahmen dieser Arbeit möchte ich zunächst die Bedeutung und Vo-
raussetzung für mich wesentlicher Begriffe, wie Inklusion, Selbstbestimmung, Em-
powerment und Teilhabe am Arbeitsleben herauskehren, um diese anschließend mit
der praktischen Wirklichkeit, der Beschreibung des Forschungsfeldes zu vergleichen
und zu diskutieren. Um über Inklusion im Bereich der Behindertenhilfe zu sprechen,
ist es vorerst sinnvoll und notwendig, zuerst auf den Begriff der Behinderung selbst
einzugehen.
1.1 Zum Behinderungsbegriff
Eine Schwerbehinderung wird in Deutschland als Grad der Behinderung ausgedrückt
und nach Zehnergraden von 20 ­ 100 abgestuft vom versorgungsmedizinischen
Dienst des jeweiligen Versorgungsamtes nach Beantragung durch die betroffene Per-
son festgestellt. Als schwerbehinderte Menschen gelten nach § 2 Abs. 2 SGB IX Per-
sonen, denen von den Versorgungsämtern ein Grad der Behinderung von 50 oder
mehr zuerkannt worden ist. Der Grad der Behinderung ist als Ausmaß der Behinde-
rung unter Heranziehung der ,,Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht"
5
in der jeweils
gültigen Fassung festzulegen. In den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sowie
im SGB IX, Teil 2 des Schwerbehindertenrechts gilt als schwerbehindert, wer einen
Grad der Behinderung von 50 und mehr hat
6
oder von der BA einem schwerbehin-
derten Menschen gleichgestellt wurde
7
.
Nach § 2 Abs. 3 SGB IX sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinde-
rung von weniger als 50, aber wenigstens 30 schwerbehinderten Menschen gleichge-
stellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen ge-
eigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX nicht erlangen oder nicht behalten
können. Die Gleichstellung erfolgt auf Antrag des behinderten Menschen durch die
Bundesagentur für Arbeit.
5
Teil 2 SGB IX S. 89 ff.
6
§ 2 Abs. 2 SGB IX S. 17.
7
§ 2 Abs. 3 SGB IX S.17-18.

4
1 THEORETISCHER RAHMEN
Die Art der Behinderung wird anhand von Kategorien in der Versorgungsmedizin-
Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erfasst, wobei sich die
Einteilung nicht primär in Krankheitsdiagnosen vollzieht, sondern an der Erschei-
nungsform der Behinderung und der durch sie bestimmten Funktionseinschränkung
orientiert. Menschen gelten als behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige
Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist
8
.
Hier greift das Neunte Sozialgesetzbuch (Rehabilitation und Teilhabe von behinder-
ten Menschen) den Ansatz des biopsychosozialen Modells ,,International Classifica-
tion of Functioning, Disability and Health (ICF)" auf, dass im Jahr 2001 von der
WHO verabschiedet wurde. Darin wird von Impairment, Activity und Participation
gesprochen, also von Schädigung, Beeinträchtigung der Aktivität und Teilhabe. Da-
mit wandelt sich die Perspektive von einer bisher rein defizitären medizinischen Be-
trachtungsweise und Klassifikation von Personen zu einer biopsychosozialen Sicht-
weise, die Situationen, Umweltbedingungen und Funktionsfähigkeiten mit würdigt.
Abbildung 1 zeigt die Komponenten von Gesundheit nach der ICF:
Abb.:
1: Komponenten von Gesundheit, klassifiziert nach der ICF
9
,,Der Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen umfasst alle Aspekte der
funktionalen Gesundheit. Eine Person ist funktional gesund, wenn ­ vor dem Hin-
tergrund ihrer Kontextfaktoren ­
1. ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Kör-
perstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körper-
funktionen und -strukturen),
2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprob-
lem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten),
8
§ 2 Abs. 1 SGB IX S. 17.
9
Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information 2013.

5
1 THEORETISCHER RAHMEN
3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und
dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte
Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder ­strukturen oder der Aktivitäten er-
wartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen)."
10
Die UN-Behindertenrechtskonvention berücksichtigt ebenfalls die Gegebenheit, dass
Behinderung ein sich verändernder und weiterentwickelnder Begriff ist, dessen In-
terpretation und Auslegung eng mit der Überzeugung und Denkweise der Gesell-
schaft und deren Mitglieder verknüpft ist. In der Präambel unter e) ist von einer
,,Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und
umweltbedingten Barrieren" die Rede, die einer gleichberechtigten Teilhabe Behin-
derter im Wege stehen.
11
Die folgende Abbildung 2 trifft eine Aussage zur Entwicklung der Zahl der schwer-
behinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter:
Abb.: 2: Entwicklung der Zahlen schwerbehinderter Menschen (Quelle: Bundesagentur für
Arbeit 2013 ,,Die Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen 2012"
12
)
Laut DESTATIS, dem statistischen Bundesamt treten Behinderungen vor allem bei
älteren Menschen auf:
"So waren deutlich mehr als ein Viertel (29 %) der schwerbehinderten Menschen 75 Jahre und älter;
knapp die Hälfte (46 %) gehörte der Altersgruppe zwischen 55 und 75 Jahren an. 2 % waren Kinder
10
Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information 2005, S. 4.
11
BMAS 2011, S. 4.
12
BA 2013, S. 3.

6
1 THEORETISCHER RAHMEN
79,72
79,66
78,98
77,49
16,29
16,79
17,44
19,18
3,99
3,55
3,58
3,33
2004
2005
2006
2012
geistige Behinderung in %
psychische Behinderung in %
körperliche Behinderung in %
und Jugendliche unter 18 Jahren. Mit 83 % wurde der überwiegende Teil der Behinderungen durch
eine Krankheit verursacht; 4 % der Behinderungen waren angeboren beziehungsweise traten im ers-
ten Lebensjahr auf, 2 % waren auf einen Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen. Zwei von
drei schwerbehinderten Menschen hatten körperliche Behinderungen (62 %): Bei 25 % waren die
inneren Organe beziehungsweise Organsysteme betroffen. Bei 13 % waren Arme und Beine in ihrer
Funktion eingeschränkt, bei weiteren 12 % Wirbelsäule und Rumpf. In 5 % der Fälle lag Blindheit
beziehungsweise eine Sehbehinderung vor. 4 % litten unter Schwerhörigkeit, Gleichgewichts- oder
Sprachstörungen. Der Verlust einer oder beider Brüste war bei 2 % Grund für die Schwerbehinde-
rung. Auf geistige oder seelische Behinderungen entfielen zusammen 11 % der Fälle, auf zerebrale
Störungen 9 %. Bei den übrigen Personen (18 %) war die Art der schwersten Behinderung nicht aus-
gewiesen. Bei knapp einem Viertel der schwerbehinderten Menschen (24 %) war vom Versorgungs-
amt der höchste Grad der Behinderung von 100 festgestellt worden; 31 % wiesen einen Behinde-
rungsgrad von 50 auf."
13
Die Mitgliederstatistik der BAG:WfbM
14
zeigt für die Jahre 2004 bis 2006 und
2012
15
folgende Gesamtentwicklung der Anteile der Werkstattbeschäftigten mit be-
stimmten Behinderungsarten ­ geistige Behinderung, psychische Behinderung und
körperliche Behinderung ­ an:
Abb.: 3: Entwicklung der Werkstattplätze der Mitglieder der BAG: WfbM (Quelle der Zahlen:
BMAS und BAG:WfbM)
Die Zahl der Werkstattplätze mit psychischer Behinderung ist in den letzten Jahren
gestiegen, jedoch nicht so dramatisch, wie in der Öffentlichkeit diskutiert. Obwohl
13
Statistisches Bundesamt 2012, Pressemitteilung Nr. 324..
14
BMAS 2008, S. 58ff.
15
BAG WfbM 2013.

7
1 THEORETISCHER RAHMEN
der Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Entwick-
lung der Zugangszahlen zu Werkstätten für behinderte Menschen auf die Dynamik
der Zugänge zu den Werkstätten verweist, wonach die Zugänge der psychischen Be-
hinderungen im Vergleich zu den anderen beiden Kategorien überproportional hoch
zu sein scheinen.
16
Der ,,neue" Auftrag der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) lautet ­ ins-
besondere nach der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 ­ Inklusion, Teilhabe
aller Menschen an allen Bereichen der Gesellschaft. Was der Begriff Inklusion ver-
körpert, möchte ich im nächsten Abschnitt näher beleuchten.
1.2 Inklusion
Der Begriff Inklusion (lat. = inclusio) bedeutet so viel wie "Einschluss" oder auch
"Enthalten sein"
17
. Inklusion beschreibt also die Zugehörigkeit aller Menschen zur
Gesellschaft, verbunden mit der Möglichkeit zur uneingeschränkten Teilhabe in allen
Bereichen dieser Gesellschaft.
,,,,Inklusion" heißt, Menschen willkommen zu heißen. Niemand wird aus-
geschlossen, alle gehören dazu: zu unserer Gesellschaft. Alle werden an-
erkannt und alle können was beitragen. Unsere Gesellschaft wird reicher
durch die Vielfalt aller Menschen, die in ihr leben. Das Wort Inklusion
bedeutet auch, nachzudenken und zu beobachten: Wo und warum werden
Menschen noch ausgeschlossen? Wie können wir das ändern?"
18
Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 wendet sich mit der Forderung nach
Inklusion gegen eine gesellschaftliche Marginalisierung, da sie nicht nur für Men-
schen mit Behinderungen gilt, sondern auch andere Menschen, die beispielsweise
wegen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer sozialen Stellung
benachteiligt werden, mit einschließt.
19
Inklusion ist jedoch keine Einstellung, bei der ich ,,einen inneren Schalter umlegen"
kann, sondern eine verfestigte innere Haltung, die das Denken und Handeln be-
16
BMAS 2008, S. 58ff.
17
Duden 2013.
18
Brokamp 2011, S. 18.
19
BMAS 2011.

8
1 THEORETISCHER RAHMEN
stimmt
20
und die sich damit wiederum reziprok auf die Gesellschaft auswirken
kann.
21
Brokamp verweist hier vor allem auf den Prozesscharakter von Inklusion:
,,Inklusion kann überall anfangen, hört aber nie auf. Inklusion ist ein lebendiger Prozess, der von
unterschiedlichen Standorten gestartet und weitergeführt werden kann. Inklusion ist eine Haltung,
eine persönliche Einstellung, mit der jede/r im privaten und beruflichen Umfeld immer wieder etwas
Neues entdecken und bewirken kann."
Inklusion beinhaltet somit stetige Veränderung in einem kontinuierlichen Prozess
und hat das Ziel, Teilhabe und Vielfalt für alle Menschen zu ermöglichen. Für Bro-
kamp macht gerade das Hinterfragen und immer wieder Neufinden im Verände-
rungsprozess den positiven, lebendigen und interaktiven Charakter von Inklusion
aus. ,,Je mehr Menschen sich inklusiv engagieren, desto vielfältiger sind die Verän-
derungsprozesse, die eine Gemeinschaft bewirken und gestalten kann."
22
Inklusion bedeutet in Bezug auf die Teilhabe an allen Bereichen in der Gesellschaft
auch, Handlungsmöglichkeiten oder -räume zu eröffnen, einen Austausch bzw. eine
Interaktion zu ermöglichen und Medien des Austausches zugänglich bzw. verfügbar
zu machen. Sie sorgt für Barrierefreiheit auf allen Ebenen, hilft subjektive Ängste,
Unsicherheiten, und Vorurteile abzubauen und vermindert den Aussonderungsdruck
durch Vereinfachung bürokratischer Strukturen und unterstützt vertikale und hori-
zontale Durchlässigkeit innerhalb des Bildungssystems und die Zugänge zu den un-
terschiedlichen Funktionssystemen wie beispielsweise dem Wirtschaftssystem mit
den beiden Subsystemen Arbeitsmarkt und Geldverkehr.
23
Brokamp manifestiert folgende Grundideen einer inklusiven Haltung, die ich insbe-
sondere als Hintergrund und theoretisches Fundament zur Entwicklung eines theo-
20
vgl. Brokamp 2011, S. 19.
21
vgl. Luhmann 1998, S. 649ff.
22
Brokamp 2011, S. 19.
23
vgl. Luhmann 1997, S. 624. ,Nach Luhmann nehmen Personen als ,,biopsychische Systeme" durch
Inklusion an der Gesellschaft teil. Eine Gesellschaft ist wiederum nur funktionsfähig, wenn sie Teilha-
bemöglichkeiten an gesellschaftlichen Ressourcen ermöglicht, beispielsweise in Form von Arbeit und
Einkommen. Luhmann beschreibt damit Leistungskreisläufe innerhalb eines bestimmten Funktionssys-
tems.`

9
1 THEORETISCHER RAHMEN
riegeleiteten Maßstabes für die WfbM in Kapitel 3 als wichtig erachte und daher gern
an dieser Stelle abschließend zum Begriff der Inklusion darbieten möchte:
­
,,Inklusion versucht, die Herausforderungen unserer Welt menschenwürdig an-
zunehmen.
­
Inklusion will allen Menschen ermöglichen, am Leben teilzuhaben. Das be-
deutet: anerkannt und wertgeschätzt zu sein, mitzuwirken, Kontakte und Freund-
schaften zu haben, gemeinsam voneinander zu lernen.
­
Inklusion erkennt jede Person in ihrer Einmaligkeit an: Jede/r lebt in unter-
schiedlichen Situationen und hat andere Kompetenzen, Bedürfnisse und Stärken.
­
Inklusion schätzt die Verschiedenheit von Menschen und versucht, sie aktiv zu
nutzen.
­
Inklusion sieht einen Menschen als Ganzes und wendet sich gegen Einteilungen,
die der Vielfalt von Menschen nicht gerecht werden (z. B. Deutsche und Aus-
länder, Behinderte und Nichtbehinderte, Heterosexuelle und Homosexuelle,
Reiche und Arme etc.).
­
Inklusion wendet sich dagegen, Menschen an den Rand zu drängen. Inklusion
stellt Brücken und Sprungbretter bereit, damit Menschen teilhaben können.
­
Inklusion macht aufmerksam und hilft, Ursachen, Formen und schon kleine An-
zeichen von Diskriminierung zu erkennen und abzubauen.
­
Inklusion begegnet jedem Einzelnen mit Fairness, Offenheit und Respekt.
­
Inklusion ist kein Ergebnis, sondern ein Prozess. Selbst wenn inklusive Pro-
zesse nie wirklich abgeschlossen sind, lohnt sich jeder einzelne Schritt.
­
Inklusion bietet viele Wege, um sich an diesem Prozess zu beteiligen - alle Ideen
sind willkommen, wenn sie zu mehr Akzeptanz und Möglichkeiten führen."
24
1.3 Selbstbestimmung und Empowerment
Selbstbestimmung in seiner politisch-soziologischen Bedeutung versteht sich als
,,Unabhängigkeit des bzw. der Einzelnen von jeder Art der Fremdbestimmung (z.B.
durch gesellschaftliche Zwänge, staatliche Gewalt)"
25
. Für den Begriff Empower-
ment finden sich aus dem Englischen übersetzt, Synonyme wie ,,Befähigung, Er-
mächtigung, Mitwirkungsmöglichkeit, Bevollmächtigung, Berechtigung, Aktivierung
etc."
26
Beide Begriffe gewannen ­ im Zusammenhang mit der Aussonderung und
Diskriminierung behinderter Menschen in der Vergangenheit ­ in den 60iger Jahren
an Tragweite. Zum einen durch die independent living-Bewegung in den USA, die
24
Brokamp 2011, S. 20.
25
Duden 2013.
26
Deutsch-Englisch-Wörterbuch 2013.

10
1 THEORETISCHER RAHMEN
durch den betroffenen Studenten Ed Roberts initiiert wurde und erstmals Forderun-
gen nach einem autonomen Wohnen und Leben aufstellte.
27
Zum anderen parallel in
Deutschland durch beispielsweise den Club der Behinderten und ihrer Freunde oder
der Krüppelbewegung, die sich insbesondere gegen Diskriminierung, Benachteili-
gung und Aussonderung in spezielle Wohneinrichtungen wandten
28
.
Es lohnt sich noch genauer auf die Thematik der Selbstbestimmung und des Empo-
werment einzugehen und auch die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Um-
setzung, die unter Punkt 2, in der Beschreibung des Forschungsfeldes, ausführlicher
im Zusammenhang mit Qualitätszielen der WfbM betrachtet werden, anzureißen.
Schönwiese 2003 beschreibt das
Konzept von "independent living" bzw. das Kon-
zept selbstbestimmter "persönlicher Assistenz" wie folgt:
"Selbstbestimmt leben heißt, KONTROLLE ÜBER DAS EIGENE LEBEN
zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Al-
ternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der
Bewältigung des Alltags minimieren. Das schließt das Recht ein, seine ei-
genen Angelegenheiten selbst regeln zu können, an dem öffentlichen Le-
ben der Gemeinde teilzuhaben, verschiedenste soziale Rollen wahrneh-
men und Entscheidungen fällen zu können, ohne dabei in die psychologi-
sche oder körperliche Abhängigkeit anderer zu geraten. Unabhängigkeit
(`Independence') ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich
bestimmen muß." (Definition der amerikanischen `INDEPENDENT-
LIVING-BEWEGUNG' nach Frehe, 1990, S.37
29
)
Wagner 2001 gibt zu bedenken, dass gerade bei einem
geistig behinderten Menschen
die Fähigkeit und damit Möglichkeit zur Selbstbestimmung eingeschränkt sein kann.
Zum einen in der Behinderung selbst begründet, weil die Fähigkeit die eigene Wün-
sche und Bedürfnisse verbal oder nonverbal mitzuteilen nicht vorhanden bzw. mini-
mal ausgeprägt ist. Zum anderen jedoch auch aus dem Umfeld (Angehörige, Institu-
tionen etc.) und deren Umgang mit dem Betroffenen, beispielsweise durch Überfür-
27
Theunissen 2001, S. 13ff.
28
Ebd. 2001, S. 13ff.
29
Schönwiese 2003.

11
1 THEORETISCHER RAHMEN
sorge und Abnahme von Entscheidungen sowie institutionell ungünstige Rahmenbe-
dingungen, resultierend.
30
Seligman spricht in diesem Zusammenhang von einer erlernten Hilflosigkeit, ,,(...)
wenn ein Organismus lernt, dass er in einer Situation hilflos ist, kann ein großer Teil
seines adaptiven Verhaltensrepertoires untergraben werden."
31
. Dabei verringert
sich nicht nur die Motivation der Betroffenen bewusst und willentlich Handlungen
auszuführen, sondern betrifft auch die Kognition, in dem es die Wahrnehmung bzgl.
erfolgreicher Einflussnahme/ Kontrolle über Situationen verzerrt und dazu führt, dass
der Betroffene gar nicht handelt und Erfolg bzw. Misserfolg einer Situation außer-
halb seines Einflusses, d. h. von seiner Person unabhängig, attribuiert.
32
Dies kann wiederum zu schweren emotionalen Störungen, wie Depression
33
, der Be-
troffenen mit beispielsweise folgenden Symptomen führen:"
x eine Zweiteilung der Welt entlang der Achse vom Macht und Gestaltungs-
kraft(,,die dort oben, wir hier unten";
x eine Weltsicht, in deren Licht die Strukturen der alltäglichen Wirklichkeit unver-
rückbar und dem eigenen Handeln nicht mehr zugänglich erscheinen; das resig-
native Akzeptieren des alltäglich Gegebenen;
x die Geringschätzung des Wertes der eigenen Meinung
x das generalisierte Misstrauen gegenüber einer Umwelt, die als unwirtlich, abwei-
send und feindlich gesonnen erlebt wird;
x die Selbstattribution von Schuld und Verantwortung für Lebensmisslingen;
x das Gefühl des Aufgeliefert-Seins und die Erfahrung der eigenen sozialen Ver-
letzlichkeit;
x das Gefühl des Abgeschnitten-Seins von Ressourcen der sozialen Einflussnahme
und das fehlende Vertrauen in die Möglichkeiten des Sich-Einmischens und
x das Gefühl der Zukunftsverschlossenheit."
34
30
Wagner 2001.
31
Seligman; Petermann 1999, S. 34.
32
Ebd. 1999, S. 34 f.
33
Ebd. 1999, S. 50ff.
34
Herringer 2006, S. 54-55, zitiert nach: Kieffer 1984, S. 15ff.

12
1 THEORETISCHER RAHMEN
Im Gegensatz zu medizinischen und behindertenpädagogischen Therapieformen ver-
folgt das Konzept des Empowerment die konsequente Stärkung des Individuums
durch die Akzeptanz seiner Beeinträchtigung als eine Form des menschlichen Da-
seins und durch die Fokussierung auf seine Ressourcen:"Empowerment zielt auf die
Stärkung und Erweiterung der Selbstverfügungskräfte des Subjektes; es geht um die
(Wieder-)Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen All-
tags."
35
Dabei wird deutlich, dass nicht nur die betroffenen Menschen gefördert und
gestärkt werden sollten, sondern auch das System als Ganzes in die Betrachtungen
mit einbezogen werden muss. Um den Zugang zu allen Bereichen der Gesellschaft
für alle Individuen zu ermöglichen, ,,sind Veränderungen der sozialen, ökonomi-
schen, rechtlichen und politischen Institutionen innerhalb der Gesellschaft notwen-
dig.
36
"
Wagner weist ferner darauf hin, dass Empowermentprozesse nicht nur eine
Einzelleistung des betroffenen Menschen darstellen, sondern immer in einem sozia-
len Kontext stattfinden und von der Unterstützung und Kooperation anderer Men-
schen, beispielsweise professioneller HelferInnen leben.
37
Damit wird offensichtlich,
dass Empowermentprozesse sowohl eine individuelle, eine gruppenbezogene und
eine gesellschaftliche also strukturelle Dimension haben.
Nach den Aktivitäten der Unabhängigkeitsbewegungen in den 1960iger Jahren wur-
den die Forderungen Betroffener nach Selbstbestimmung und gesellschaftlicher
Teilhabe auch in Deutschland gesetzlich verankert, u. a. in das Grundgesetz (GG),
das Bundesgleichstellungsgesetz (BGG), das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) und das
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Darüber hinaus gab es strukturelle
Veränderungen, die die selbstbestimmte Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft
fördern sollten. Beispielsweise die Einführung des ,,Persönlichen Budget" als In-
strument im Januar 2008 soll das Wunsch- und Wahlrecht des Einzelnen unterstützen
und den betroffenen Menschen selbst als Experten seiner eigenen Bedürfnisse wahr-
nehmen und auch dazu befähigen. Es bietet die Vorteile: ,,Mehr Selbstbestimmung,
mehr Selbständigkeit, mehr Selbstbewusstsein! Niemand wird wegen Art und Schwe-
35
Ebd. 2006, S. 15.
36
BMZ 2013
37
vgl. Wagner 2001.

13
1 THEORETISCHER RAHMEN
re seiner Behinderung oder wegen des Umfangs der von ihm benötigten Leistungen
ausgegrenzt. Das Persönliche Budget steht allen offen.
38
"
Letztendlich sind die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention in 2009 zu
nennen, die mit starker Beteiligung behinderter Menschen als Experten ihrer selbst
aufgestellt und ratifiziert wurden.
Damit wird die Idee einer inklusiven Gesellschaft
verkörpert, die Selbstbestimmung und Teilhabe aller Menschen miteinschließt. Die
aktive Beteiligung behinderter Menschen stellt darin ebenso eine Bedingung dar, um
fremdbestimmte Strukturen abzubauen sowie fremdbestimmte Entscheidungen in der
Zukunft zu vermeiden.
Die Erkenntnis dass nicht der beeinträchtigte Mensch sondern die ausgrenzenden
gesellschaftlichen Bedingungen schuld an der Isolation und Benachteiligung der Be-
troffenen sind, führte bei vielen behinderten Menschen zu einem neuen Selbstbe-
wusstsein und zur Bildung vieler Selbsthilfegruppen und -vereine, die betroffene
Menschen beraten und unterstützen. Dies bezeichnet Hermes als ,,Peer Counse-
ling"
39
, ein Konzept, bei dem Menschen, die vergleichbare Beeinträchtigungen,
Problemerfahrungen etc. haben als und damit als beratender Experte für die Beein-
trächtigungen und Problemstrukturen und deren Bewältigung fungieren. Sie beglei-
ten Menschen mit Behinderungen auf ihren Weg zu mehr Selbstvertrauen, Selbstbe-
wusstsein und Stärke.
1.4 Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft
Der Begriff Teilhabe wird im Bereich der Sozialen Arbeit vielfältig und generalisiert
als behindertenpolitische Leitformel
40
,,Teilhabe an der Gesellschaft" verwendet.
Nach Welti kommt Teilhabe von Teilnehmen und Teilhaben an etwas und stammt
aus dem lateinischen pars (Teil) und cipere (nehmen)
41
. Teilhabe bedeutet nach Wel-
ti jedoch noch mehr: ,,eine Kategorie des Verhältnisses, der Zugehörigkeit und
38
BMAS.
39
vgl. Hermes 2006, S. 74.
40
vgl. Gröschke 2011, S. 114.
41
vgl. Welti 2005, S. 535.

14
1 THEORETISCHER RAHMEN
der Zuteilung. Teilhabe kann als erkenntnistheoretische Kategorie und als politi-
scher, rechtlicher und sozialer Begriff für das Verhältnis der einzelnen Person zu
Staat und Herrschaft und zur Verteilung materieller und ideeller Güter gebraucht
werden."
42
Auch Gröschke versteht den Begriff Teilhabe als komplexes Konstrukt, das die Be-
griffe ,,Teilnahme, Beteiligung, Mitbestimmung und Partizipation"
43
mit einschließt
und das nur mit Inklusion als Mittel und Weg ermöglicht werden kann. ,,Insofern ist
Teilhabe die menschenrechtsethische Grundlage wie Zielbestimmung einer inklusi-
ven Praxis, die sich gegen die soziale Abwertung und Ausgrenzung von Menschen
mit Beeinträchtigungen und für deren Chancengleichheit durch Abbau von Zugangs-
barrieren sowie Förderung realer Beteiligungschancen an öffentlichen Gütern enga-
giert."
44
Betrachten wir Staat und Herrschaft als gesellschaftliche Strukturen genau-
er, so verbirgt sich hinter dem Begriff Teilhabe auch der Zugang zu den unterschied-
lichen Funktionssystemen nach Luhmann
45
, die Wansing in ihrem Schaubild ,,Inklu-
sion in gesellschaftliche Funktionssysteme" visualisiert.
46
Abb.: 4: Inklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme
47
42
Ebd. 2005, S. 535.
43
vgl. Gröschke 2011, S. 114.
44
vgl. Lob-Hüdepohl 2010, S. 14.
45
vgl. Luhmann 1997, S. 624.
46
vgl. Wansing 2005b, S. 23.
47
Ebd. 2005, S. 23.

15
1 THEORETISCHER RAHMEN
Da Behinderung zu den Hauptrisikofaktoren gesellschaftlicher Exklusion zählt
48
,
bedarf es hier besonders sensibler und ausgefeilter Konzepte, um Teilhabe zu ermög-
lichen und sicherzustellen.
Die Hilfeleistungen der Behindertenhilfe sind deshalb
darauf ausgerichtet, die behinderungsspezifischen, verminderten Teilhabemöglich-
keiten zu kompensieren und dadurch Teilhabe zu ermöglichen. Auch im 9. Sozialge-
setzbuch ist Behinderung definiert als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft
49
, die durch Rehabilitations- und Teilhabeleistungen des sozialen
Systems
50
reduziert werden müssen.
Dabei handelt es sich einerseits um den Abbau
von rein physikalischen Hemmnissen, wie die Unerreichbarkeit von Örtlichkeiten für
RollstuhlfahrerInnen und andererseits um komplexere Formen der gesellschaftlichen
Teilhabe. Im SGB IX sind folgende Teilhabeleistungen genannt:
Abb.: 5: Überblick Teilhabeleistungen im SGB IX
51
Gröschke betont, dass Teilhabe, in der originalsprachlichen Bedeutung der UN-
Behindertenrechtskonvention mit participation
52
übersetzt, sowohl eine personenbe-
zogene, individuelle als auch eine gesellschaftsbezogene, politische Dimension ha-
be.
53
In seine teils philosophischen Betrachtungen von Teilhabe fließen die im vo-
rangegangenen Abschnitt näher betrachteten Begriffe Selbstbestimmung und Empo-
werment mit ein:" Auf diesem Hintergrund kann man Partizipation/ Teilhabe sowohl
als einen Modus der Individuierung (mehr Freiheit und Selbstbestimmung) als auch
48
vgl. Wansing 2005a, S. 78.
49
§ 2 Abs. 1 SGB IX S. 17.
50
§ 4 SGB IX S. 18f.
51
Ebd. S. 18.
52
BMAS 2011.
53
vgl. Gröschke 2011, S. 115f.
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

16
1 THEORETISCHER RAHMEN
der Vergesellschaftung (mehr Integration und Zugehörigkeit) begreifen. Das Indivi-
duum kann durch Partizipation an Handlungsspielraum, Macht und Einfluss gewin-
nen (Empowerment) wie es sich auch dadurch aus einer sozialen Position der Be-
nachteiligung und Ausgrenzung befreien und soziale Anerkennung und Zugehörigkeit
erkämpfen kann (Emanzipation)."
54
Für die Beantwortung der Forschungsfrage ist es von Bedeutung, die Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben und die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemein-
schaft genauer zu beschreiben, da diese insbesondere im Kapitel 2 inhaltsanalytisch
betrachtet werden sollen. Im SGB IX sind folgende Leistungen zur Teilhabe am Ar-
beitsleben näher definiert:
Abb.: 6: Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im SGB IX
55
Im Kapitel 5 des SGB IX sind alle Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und
deren Kosten- und Leistungsträger näher definiert. Im Kapitel 7 des SGB IX trifft
54
Ebd. 2011, S. 117.
55
§ 33 Abs. 3 SGB IX S. 50.
Teilhabe
am
Arbeits-
leben
Hilfen zur
Erhaltung und
Erlangung
eines
Arbeitsplatzes
berufliche
Anpassung und
Weiterbildung
berufliche
Ausbildung
Berufs-
vorbereitung
Gründungs-
zuschuss
Sonstige Hilfen
zur Förderung
der Teilhabe
am Arbeits-
leben

17
1 THEORETISCHER RAHMEN
dies analog auf die Leistungen zur Teilhabe am Leben und in der Gemeinschaft zu.
Unter Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sind alle Hilfeleistungen zu verstehen,
die die Inklusion behinderter Menschen außerhalb des Subfunktionssystems Arbeit
fördern, beispielsweise Angebote der Bildung, des Wohnens und der Freizeit, wobei
im SGB IX insbesondere folgende Leistungen genannt werden:
Abb.: 7: Leistungen zur Teilhabe am Leben und in der Gemeinschaft im SGB IX
56
Dabei sind beide Bereiche nicht getrennt voneinander zu sehen, denn Arbeit gilt als
,,wesentlicher Aspekt für gesellschaftliche Teilhabe"
57
. Durch Arbeit werden auch
Gebiete des Lebens und der Gemeinschaft wie die soziale Interaktion, die Freizeit,
56
§ 55 Abs. 2 SGB IX S. 79.
57
vgl. Kühn; Rüter 2008, S. 13.
Teilhabe am
Leben und in
der Gemein-
schaft
Versorgung mit
anderen Hilfs-
mitteln
heilpädago-
gische Leis-
tungen für
Kinder
Hilfen zur
Förderung der
Verständigung
mit der Umwelt
Hilfen zu
selbstbestimm-
tem Leben in
betreuten Wohn-
einrichtungen
Hilfen bei der
Beschaffung, dem
Umbau, der
Ausstattung und
Erhaltung der
Wohnung
Hilfen zum
Erwerb
praktischer
Kenntnisse und
Fähigkeiten
Hilfen zur
Teilhabe am
gemeinschaft-
lichen und kul-
turellen Leben

18
1 THEORETISCHER RAHMEN
das Wohnen und der Zugang zur Erwachsenenbildung tangiert und effektiv mitge-
staltet. Teilhabe am Arbeitsleben ist somit auch ein wichtiger Beitrag zur gesell-
schaftlichen Teilhabe; wer nicht am Arbeitsleben teilhaben kann, dem droht die ge-
sellschaftliche Exklusion.
58
Aber er verweist auch auf die Ressource Arbeit für die
menschliche Gesellschaft, die ohne diese nicht existent wäre.
59
Diese gegenseitige
Beeinflussung von Systemen beschreibt Luhmann mit den Begriffen strukturelle
Kopplung und Interpenetration.
60
Da Werkstätten für behinderte Menschen insbesondere einen Beitrag zur Teilhabe
am Arbeitsleben leisten sollen, möchte ich im folgenden noch das Subfunktionssys-
tem ,,Arbeit", und deren Bedeutung ­ insbesondere für den Menschen ­ näher be-
leuchten. Gibt man im Synonym-Woxikon online den Begriff Arbeit ein, so findet
man beispielsweise gleichbedeutende Umschreibungen: Ausübung, Beitrag, Durch-
führung, Gestaltung, Handeln,, Leistung, Schaffen, Tun, Verrichtung, Tätigkeit, Be-
ruf, Beschäftigung, Broterwerb, Dienst, Wirkungskreis, Funktion, Profession, Aktion,
Betätigungsfeld, Auseinandersetzung etc. .
61
Arbeit in seiner etymologischen Bedeutung entwickelte sich aus dem Germanischen
ar_ejidiz/ arbejidiz und daraus wiederum entstand das althochdeutsche Wort arbeit
bzw. arabeit oder auch arebeit, was Not, Mühsal bedeutete.
62
Vor dem Hintergrund
gesellschaftlicher Transformationsprozesse unterlag und unterliegt der Begriff Arbeit
auch einem stetigen Wandel und entwickelte sich neben dem Kaptial und dem Boden
zum bedeutungsvollsten Produktionsfaktor der Wirtschaft.
63
Doch Arbeit verkörpert mehr, als diese rein kapitalistische ­ an Marx trinitarische
Formel
64
angelehnte ­ Betrachtungsweise. Prast identifiziert sechs verschiedene Di-
mensionen, um den Wert menschlicher Arbeit ergründen zu können. Zum einen Er-
58
vgl. Kronauer 2010, S. 246.
59
vgl. Ebd. 2010, S. 246.
60
vgl. Greve 2006, S. 24.
61
Woxikon Wörterbuch für Synonyme.
62
Weingart.
63
vgl. Tepper 2010, S. 9.
64
Marx; Engels 1983, S. 822ff.

19
1 THEORETISCHER RAHMEN
werbsarbeit als existenzsichernde Dimension, um ein menschenwürdiges Auskom-
men zu haben. Darüber hinaus Erwerbsarbeit als personale Dimension, die die Ent-
faltung und Verwirklichung des eigenen Selbst zum Ziel hat. Sie hat auch eine sozia-
le Dimension in Form der Teilhabe am Leben und in der Gemeinschaft. Es kommen
die volkswirtschaftliche Dimension, durch Produktion von Gütern und Dienstleistun-
gen und die betriebswirtschaftliche Dimension mit der Bereitstellung und Entwick-
lung geeigneter Fachkräfte für die Wirtschaft hinzu. Schließlich beschreibt Prast die
gesamtgesellschaftliche Dimension, die mittels der durch Arbeit erbrachten Steuern
und Abgaben einen Beitrag zum sozialstaatlichen Sicherungsnetz leistet.
65
Damit ist
,,Arbeit heute ein lebensnotwendiger Bestandteil unseres kulturell und ge-
sellschaftlich gewachsenen Daseins"
66
und es wird deutlich, wie sehr das gesell-
schaftliche Ansehen und die gesamte Sozialisation des Individuums von der Arbeit
geprägt werden. Jahoda 1983 differenziert zwischen der manifesten Funktion von
Erwerbsarbeit, analog der volkswirtschaftlichen Dimension nach Prast
67
sowie Ar-
beitsteilung und Lebensunterhalt, und sogenannten latenten Funktionen psychosozia-
ler Natur wie herausfordernde Tätigkeit, soziale Kontakte etc., die durchaus unbe-
wusst stattfinden, aber dennoch einen positiven wie negativen Einfluss auf den arbei-
tenden Menschen haben können.
68
Semmer Udris 1993 haben diese Funktionen aufgegriffen und mit anderen Funkti-
onen von Kieselbach 1983 und Warr 1984 in ein zusammengefasstes Bild psychoso-
zialer Funktionen von Erwerbsarbeit gebracht:
65
vgl. Prast 2009, S. 39.
66
vgl. Fischer; Heger; Laubenstein 2011, S. 7.
67
vgl. Prast 2009, S. 39.
68
vgl. Nerdinger; Friedemann; Blickle; Schaper 2011, S. 175.

20
1 THEORETISCHER RAHMEN
Abb.: 8: Psychosoziale Funktionen von Erwerbsarbeit nach Semmer Udris 1993
69
Es kann folglich davon ausgegangen werden, dass Arbeit für Menschen mit Beein-
trächtigungen, insbesondere mit Schwerpunkt geistige Entwicklung, sowohl als Ort
der Selbstverwirklichung als auch als Ort der Interaktion eine mindestens ebenso
große, vielleicht sogar noch größere Bedeutung hat, da sie aufgrund ihrer Beeinträch-
tigungen nicht ohne Unterstützung Zugang und Teilhabe erreichen können.
Im Punkt 2 dieser Arbeit möchte ich das Forschungsfeld näher beschreiben und ins-
besondere auf das System der Eingliederungshilfe als rechtlichen und inhaltlich-
programmatischen Rahmen der WfbM eingehen. Dazu werde ich diverse Quellen
und Materialien in Textform inhaltsanalytisch betrachten und in Form verschiedener
Ansichten und Diskussionen zur Forschungsfrage darstellen. In Punkt 3 werde ich
dann Kategorien bzw. einen theoriegeleiteten Maßstab unter Einbezug der verschie-
denen Diskussionsstränge bilden.
69
vgl. Ulich 2011, S. 496.
Aktivität und Kompetenz: Die Aktivität, die mit Arbeit verbunden ist, ist eine
wichtige Vorbedingung für Qualifikationen. In der Bewältigung von Arbeitsauf-
gaben erwerben wir Fähigkeiten und Kenntnisse, zugleich aber auch das Wissen
um diese Fähigkeiten und Kenntnisse, also ein Gefühl der Handlungskompetenz.
Zeitstrukturierung: Die Arbeit strukturiert unseren Tages-, Wochen- und Jah-
resablauf, ja die gesamte Lebensplanung. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass
viele zeitbezogene Begriffe wie Freizeit, Urlaub, Rente nur in ihrem Bezug zur
Arbeit definierbar sind.
Kooperation und Kontakt:
Die meisten beruflichen Aufgaben können nur in
Zusammenarbeit mit anderen Menschen ausgeführt werden. Das bildet eine
wichtige Grundlage für die Entwicklung kooperativer Fähigkeiten und schafft
ein wesentliches soziales Kontaktfeld.
Soziale Anerkennung:
Durch die eigene Leistung sowie durch die Kooperation
mit anderen erfahren wir soziale Anerkennung, die uns das Gefühl gibt, einen
nützlichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Persönliche Identität: Die Berufsrolle und die Arbeitsaufgabe sowie die Erfah-
rung, die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Beherrschung der Arbeit
zu besitzen, bilden eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Identität
und Selbstwertgefühl.

21
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
Betrachtet man die unter dem theoretischen Rahmen erörterten Begriffe, so stellt sich
das Forschungsfeld, wenn es sich um Menschen mit Behinderung und ihren Zugang
zu Funktionssystemen, speziell dem Subsystem Arbeit, handelt, als stark in sich ge-
gliedertes Sonderwesen mit entsprechenden Leistungen und Maßnahmen dar, ähnlich
dem Sonderwesen, dass sich als Förderschullandschaft herausgebildet hat: Die Per-
sonengruppe der Menschen mit Behinderung ist in sich gut sortiert, beispielsweise
nach Schwerbehinderung, entsprechenden Graden, höchstens 100 aber wenigstens
50, in Betracht kommender Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, noch
nicht oder noch nicht wieder, aber wenigstens ein Mindestmaß an wirtschaftlich
verwertbarer Arbeitsleistung erbringend innerhalb dazu angepasster Rehabilitations-
einrichtungen und -settings. Dementsprechend regeln verschiedene gesetzliche
Grundlagen Umfang und Inhalt der Leistungen: Teilhabe an Arbeit von Menschen
mit Behinderung fällt in die Zuständigkeitsbereiche der Sozialgesetzbücher III, IX
oder XII. Die Zieldefinition auf gesellschafts- und sozialpolitischer Ebene ist un-
missverständlich: es geht bei Teilhabe an Arbeit um eine wirtschaftlich verwertbare
Arbeitsleistung, im Optimalfall eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zur
selbstständigen Sicherung des Lebensunterhalts auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Die Inklusionsfrage bei WfbM darf allerdings nicht nur auf Teilhabe an Arbeit im
Sinne der unterschwelligen politischen Zieldefinition eines sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigungsverhältnisses auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausge-
richtet sein. Das Leistungsspektrum der WfbM innerhalb des rechtlichen und inhalt-
lich-programmatischen Rahmens ist viel breiter angelegt und neben dem Bereich
Erwerbsarbeit sind auch Handlungsfelder wie berufliche Bildung (Erst-, Fort- und
Weiterbildung) und Förderung von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsar-
ten, weiterführend also Bereiche verschiedener pädagogischer Disziplinen, relevant
für eine umfassende inhaltsanalytische Betrachtung der Inklusionsfrage bei WfbM.
Dies soll im Punkt 2, Beschreibung des Forschungsfeldes, und den folgenden Unter-
kapiteln näher beleuchtet und verschiedene Diskussionsstränge als Ergebnis der in-
haltsanalytischen Betrachtung verschiedener Quellen, wie Primärliteratur, Zeitungs-
artikel, Werkstattkonzepte, Tagungen und öffentliche Experteninterviews zu Sicht-

22
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
weisen und Verständnis von WfbM als Befürworter der Inklusion dargestellt werden.
Bevor ich mich dem rechlichen und inhaltlich-programmatischen Rahmen der WfbM
widme, möchte ich mich noch kurz zum methodischen Vorgehen der inhaltsanalyti-
schen Betrachtung des bezeichneten vorliegenden Materials äußern. Die Inhaltsana-
lyse stützt sich theoretisch und praktisch auf die qualitative Inhaltsanalyse nach May-
ring und ,,Ziel der Analyse ist es, das Material so zu reduzieren, dass die wesentli-
chen Inhalte erhalten bleiben, durch Abstraktion einen überschaubaren Corpus zu
schaffen, der immer noch Abbild des Grundmaterials ist."
70
In mehreren Arbeits-
schritten wird versucht, das vorliegende Material zu paraphrasieren, systematisch zu
kürzen und auf wesentliche Sinngehalte zu reduzieren. Das Ablaufmodell der Zu-
sammenfassung als Methode wird von Mayring in folgende Schritte unterteilt:
71
1. Paraphrasierung
2. Generalisierung auf das Abstraktionsniveau
3. Erste Reduktion
4. Zweite Reduktion
Ziel der Arbeit ist die Entwicklung eines Kategorienschemas bzw. eines theoriegelei-
teten Maßstabes unter Punkt 3, um einerseits die Forschungsfrage dieser Arbeit, ob
Werkstätten für behinderte Menschen Inklusion leben und umsetzen beantworten zu
können und andererseits ein Analyseinstrument für Werkstätten für behinderte Men-
schen zu schaffen, um sich selbst zu prüfen und Entwicklungspotentiale aufzuspüren.
Die Bildung des Kategorienschemas bzw. des theoriegeleiteten Maßstabes erfolgte
induktiv, d. h. aus dem Textmaterial heraus.
2.1 Die Systeme Eingliederungshilfe und berufliche Rehabilitation
als rechtlicher und inhaltlich-programmatischer Rahmen der WfbM
Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist im sechsten Kapitel des SGB
XII geregelt, die gesetzlichen Grundlagen zur Rehabilitation und Teilhabe behinder-
ter Menschen befinden sich seit 2001 im SGB IX. Zudem gab es eine neue Ausrich-
tung des Verhältnisses von Leistungsträgern, Leistungserbringern und Leistungsemp-
70
Mayring 2003, S. 58.
71
Mayring 2003, S. 62.

23
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
fängern: Leistungsträger garantieren für die Unterstützung angemessene Ressourcen,
Leistungserbringer als Dienstleister individueller Serviceleistungen haben zum Ziel
Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen zu ermöglichen und Leistungsemp-
fänger übernehmen im Sinne von Selbstbestimmung und Empowerment zunehmend
mehr Eigenverantwortung und haben nach § 9 SGB IX als Leistungsberechtigter ein
Wunsch- und Wahlrecht.
72
Der 7. Abschnitt im SGB III befasst sich parallel und be-
zogen auf den ersten Arbeitsmarkt mit der Förderung der Teilhabe behinderter Men-
schen am Arbeitsleben mit der Agentur für Arbeit als Leistungsträger. Die WfbM
fungiert als Sondereinrichtung sowohl zur Rehabilitation als auch ausdrücklich zur
Förderung gesellschaftlicher Teilhabe, insbesondere der Teilhabe am Arbeitsleben.
Die Vermittlung und Bedarfsfeststellung erfolgt durch Reha-BeraterInnen der jeweils
zuständigen Agentur für Arbeit.
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 und des darin formulierten Inklusi-
onsauftrages sind auch für die WfbM neue Herausforderungen entstanden. Es wird in
einer inklusiven Gesellschaft ­ im Gegensatz zu integrativen Gruppen ­ nicht mehr
zwischen verschiedenen Einzelgruppen unterschieden, sondern nur noch eine Vielfalt
der Gesellschaft wahrgenommen, die ihre Mitglieder in ihrer Verschiedenheit und
dabei als gleichberechtigte Akteure akzeptiert, würdigt und fördert. In Bezug auf die
Arbeit mit behinderten Menschen hat dies zur Folge, dass Sondereinrichtungen ge-
mäß der Philosophie der Inklusion angezweifelt und stetig in Frage gestellt werden
müssen, so dass Bildungs- und Entwicklungsprozesse in inklusiven Einrichtungen,
die für alle Menschen, sowohl mit als auch ohne Beeinträchtigungen frei zugänglich
sind, angefangen bei inklusiven Kindertagesstätten und Schulen über gemeinsame
Arbeitsplätze bis hin zu gemeinsamen Wohneinrichtungen, stattfinden können. Dem
widerspricht in der Realität jedoch das nach wie vor dominierend praktizierte und
etablierte System der stationären Sondereinrichtungen mit steigenden Zahlen der
Sondereinrichtung WfbM (2002 = 668; 2012 = 723)
73
; zudem ist die Beschäftigten-
zahl in den Werkstätten seit Jahren steigend, weshalb anzunehmen ist, dass sich das
Werkstattwesen in den kommenden Jahren eher noch weiter ausdifferenzieren wird.
72
vgl. Friedrich 2006, S. 17.
73
BAG WfbM 2013.

24
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
So ist alleine in den vergangenen vier Jahren die Zahl der Beschäftigten um ca.
20.000 belegte Werkstattplätze von 277.201 im Jahr 2009 auf 284.884 im Jahr 2010
und 291.711 im Jahr 2011 auf 297.293 im Jahr 2012 gestiegen.
74
Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach einer Reform bzw. Weiterentwicklung
des Systems der Eingliederungshilfe in fachlicher und finanzieller Hinsicht
75
laut, die
sich an den Vorgaben der UN-Behindertenkonvention 2009 orientieren muss. Fokus-
siert auf die neuen Herausforderungen und besonders auf die Förderung der Teilhabe
am Arbeitsleben durch die Werkstätten für behinderte Menschen, möchte ich den
Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 anführen, der auf die Rechte
von Menschen mit Behinderung im Kontext von Arbeit und Beschäftigung eingeht.
Der erste Absatz des Artikels lautet:"
(1)
Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behin-
derung auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebens-
unterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und
für Menschen mit Behinderung zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld
frei gewählt oder angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und för-
dern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit [...]."
76
Dieser vermittelt nach Rothfritz zwei miteinander verflochtene Rechtsansprüche, die
zum einen das Recht auf Arbeit und zum anderen das Recht auf Nichtdiskriminie-
rung, also das gleiche Recht auf Arbeit ohne Diskriminierung aufgrund von Beein-
trächtigungen für Menschen mit Beeinträchtigungen ausdrücken.
77
Auch der Verweis
,,(...)dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit
zu verdienen,(...)"
78
steht im Widerspruch zum Lohnsystem der Werkstätten für be-
inträchtigte Menschen, die dort immer noch Niedriglöhne beziehen und auf soziale
74
BAG WfbM 2010-2012.
75
LVR 2012.
76
BMAS 2011.
77
Rothfritz 2010, S. 403f.
78
BMAS 2011.

25
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
Unterstützungsleistungen angewiesen sind.
79
Doose 2007 verweist in diesem Zu-
sammenhang in seinen Ausführungen zur beruflichen Integration auf lange Sicht auf
die Problematik, die sich für Leistungsberechtigte der WfbM aus dem Prinzip des
Minderleistungsausgleichs ergibt: da die Leistungsberechtigten durch den staatlich
subventionierten geringen Verdienst von circa einem Euro pro Stunde keinen eigen-
ständigen Lebensunterhalt finanzieren können, bewegen sie sich daher ebenfalls im
Bereich der Grundsicherung nach SGB XII und müssen Einkommen, das gewisse
Freibeträge übersteigt, wiederum an den Leistungsträger zurückführen.
80
Den Lohn
in einer WfbM kann man daher passend als Quasi-Verdienst mit Simulationscharak-
ter bezeichnen: es wird impliziert, Verdienst zu erzielen, wobei es sich aber tatsäch-
lich um Subventionen der Leistungsträger handelt, die über die Leistungsberechtig-
ten auch wieder dahin zurückfließen. Für den Rahmen des Entgeltes der angestrebten
Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt bedeutet das Prinzip Minderleistungs-
bzw. Nachteilsausgleich, dass eine gewisse Höhe des Verdienstes, die wiederum an
eine gewisse Höhe der Arbeitsleistung gekoppelt ist im marktwirtschaftlichen Sys-
tem, entscheidend für eine eigenständige Finanzierung des Lebensunterhaltes jenseits
von Subventionen ist.
Der finanzielle Aufwand von modernen Wohnformen für Menschen mit Behinde-
rung soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. Sie findet jedoch in den
Forderungen nach einer Reform der Eingliederungshilfe, auf die ich im Verlauf noch
eingehen werde, Einklang. Dies bedeutet, dass ein eigenständiges Leben von Men-
schen mit Beeinträchtigungen bei sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung am
allgemeinen Arbeitsmarkt jenseits von Subventionen im gegenwärtigen Marktprinzip
wohl noch Utopie bleiben wird und definitiv zum Entwicklungspotential in Richtung
inklusive Gesellschaft gehört.
In den Unterpunkten des Artikels 27 werden die Aufgaben und Verantwortlichkeiten
der Vertragsstaaten konkretisiert und so heißt es im Punkt j des Artikels 27:" das
Sammeln von Arbeitserfahrung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch Menschen
79
Gröschke 2011, S. 74.
80
Doose 2007, S. 74.

26
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
mit Behinderungen zu fördern."
81
Dies ist deutlich ein Widerspruch zu bisherigen
Sondereinrichtungen, wie sie die WfbM darstellt, und bekräftigt ganz klar den Auf-
trag zur Teilhabe am Arbeitsleben, durch die Aufforderung den Übergang auf den
Arbeitsmarkt durch entsprechende Maßnahmen zu fördern und nicht ausschließlich
zur lebenslangen Rehabilitation zu verwahren. Dies unterstreicht der darauf folgen-
de Punkt k, der betont, dass die berufliche Rehabilitation zur (Wieder-)Herstellung
der Arbeitsfähigkeit behinderter Menschen zu fördern ist.
82
Mit der Forderung, das
Sammeln von Erfahrungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern, sind die
Vertragsstaaten auch dazu angehalten, die Wirtschaft und darin agierenden Unter-
nehmen durch geeignete Instrumente und Maßnahmen zum Handeln anzuregen und
eine inklusive Haltung zu infiltrieren.
Jörg Bungart von BAG Unterstützte Beschäftigung versteht die UN-Konvention als
eine Art Prüfstein für Einrichtungen
83
, um sich weiterentwickeln und ein inklusives
Umfeld für beeinträchtigte Menschen schaffen zu können. Ferner bemängelt er, es
habe sich insgesamt leider noch wenig entwickelt.
84
Zwar habe man sich umbenannt
und die äußere Fassade verändert, im Inneren, an der Einstellung und am Denken
und Handeln habe sich jedoch nichts verändert. Bungart nennt dies Etikettenschwin-
del.
85
In den Schriften des Deutschen Landkreistages heißt es ,,Die Eingliederungshilfe für
behinderte Menschen bietet ein umfangreiches und vielfältiges Spektrum an Leistun-
gen für Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen (psychischen) Behin-
derungen, angefangen von der Frühförderung für behinderte Kinder und Jugendli-
che über die Werkstatt für behinderte Menschen, den Behindertenfahrdienst bis zum
Platz in einer Wohneinrichtung und vielem mehr."
86
Dennoch werden hier auch Re-
formpotentiale gesehen, die ich für wichtig und essentiell bei der Anpassung der
81
BMAS 2011.
82
Ebd. 2011.
83
Walter 2010, S. 193.
84
Ebd. 2010, S. 1993.
85
Ebd. 2010, S. 1993.
86
Schriften des Deutschen Landkreistages 2007.

27
2 BESCHREIBUNG DES FORSCHUNGSFELDES
Eingliederungshilfe an die UN-Behindertenrechtskonvention halte und die ich im
Folgenden nennen möchte:
Abb.: 9: Reformpotentiale der Eingliederungshilfe für beeinträchtigte Menschen
87
87
Schriften des Deutschen Landkreistages 2007.
Leistungen der Eingliederungshilfe sollten unabhängig von der Betreungsform, individuell
und nach Schwere der Beeinträchtigung gezahlt werden.
Das länderspezifische Heimrecht muss differenzierte Angebote fördern und beispielsweise
Wohn- und Betreuungsformen in der Häuslichkeit unterstützen.
Pflegebedürftigen und kranken Menschen mit Beeinträchtigungen steht der volle
Leistungsumfang aus Kranken- und Pflegeversicherung zu.
Beratungsangebote für beeinträchtigte Menschen und ihrer Angehörigen müssen früher
greifen, um Stärken und Ressourcen der Betroffenen nutzen, weiterentwickeln und
frühzeitig Empowermentprozesse initiieren zu können.
Verstärkung der Steuerungsfunktion durch die Leistungs- und Sozialhilfeträger zum
Ausbau und zur Stabilisierung einer systematischen Hilfeplanung.
Die Durchlässigkeit von der WfbM in den allgmeinen Arbeitsmarkt und die Kooperation
zwischen Kosten- und Leistungsträgern und WfbM müssen gestärkt und weiter ausgebaut
werden.
Leistungen für Kinder und Jugendlich sollten unabhängig ihrer Beeinträchtigungen in einer
Hand, des Sozialhilfeträgers, liegen.
Um eine Gleichstellung zu erreichen, keine Schlechter- und Besserstellung von
beeinträchtigten Menschen, sind Vermögen und Einkommen bei der Eingliederungshilfe
zu berücksichtigen.
Aufgabenangemessene Finanzausstattung der Landkreise durch Bund und Länder, um das
System der Eingliederungshilfe reformieren zu können.
Befürwortung des Bundesteilhabegeldes, über das der Leistungsberechtigte, der aufgrund
der besonderen Schwere seiner Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
erwerbstätig sein kann, in Form eines Geldbetrages zum Nachteilsausgleich verfügen soll.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783958209916
ISBN (Paperback)
9783958204911
Dateigröße
1.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Note
2,0
Schlagworte
Inklusion WfbM Werkstätten für behinderte Menschen Werkstättenverordnung Inklusionsfrage Inklusionsdebatte Inhaltsanalyse theoriegeleiteter Maßstab SGB SGB IX Integration Eingliederungshilfe Teilhabe am Arbeitsleben Teilhabe in der Gesellschaft berufliche Rehabilitation UN-Behindertenrechtskonvention Schwerbehinderung Schwerbehindertenrecht Behinderungsbegriff
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