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Ethischer Bankrott oder kultureller Winterschlaf? Der Lagermensch bei Varlam Šalamov und Viktor Frankl

©2012 Examensarbeit 63 Seiten

Zusammenfassung

Der jüdische Psychologe und Holocaustüberlebende Viktor Frankl schildert in seinem 1946 publizierten und weltberühmten Werk „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ eindrucksvoll die eigene Haftzeit in verschiedenen Arbeitslagern der Nazis. Varlam Šalamov wurde unter Stalin als Konterrevolutionär nach dem berüchtigten ‘Paragraphen 58’ verurteilt, verbrachte 14 Jahre unter mitunter lebensbedrohlicher Zwangsarbeit im extremen Nordosten Sibiriens. Dieser prägendsten Zeit seines Lebens sind Erzählungen aus Kolyma gewidmet. Die mehrbändige Komposition verschiedener Kurzgeschichten gilt als eindrucksvollster Augenzeugenbericht über das Leben und Sterben im grausamsten Lagerkomplex der Stalin-Ära um den Fluss Kolyma. An der inhaltlichen Bergung dieses literarischen Schatzes sieht sich die vorliegende wissenschaftliche Abhandlung beteiligt.
Während Šalamov von Nahestehenden als ‘verhärteter Pessimist’ beschrieben wird, ist der Grundtenor des Psychologen Frankl weitaus optimistischer. Wie gegensätzlich die Autoren in Bezug auf ihren Charakter sind, so verblüffend können sich ihre Betrachtungen ähneln oder einander ergänzen. Es bietet sich an, die individuellen Erfahrungen und moralischen Schlussfolgerungen gegenübergestellt zu betrachten. Wie stellt sich die geschilderte Lagerrealität bei Varlam Šalamov und Viktor Frankl dar und welche Auswirkungen auf das Seelenleben des Häftlings werden beschrieben? Mit dieser Frage ist das Kernthema der vorliegenden Arbeit umrissen. Die Berichte weiterer Häftlinge aus GULag und nationalsozialistischem Konzentrationslager bergen wertvolle Ergänzungen. Der literarische Vergleich ermöglicht eine umfangreiche Betrachtungsweise bezüglich der Beschaffenheit der menschlichen Natur in der ‘raubtierhaften Gegenwart’ des Lagers. Strukturgeschichtliche Hintergründe betten die Erfahrungen in einen historischen Rahmen. Hinführende Betrachtungen über das Phänomen Lager im Allgemeinen sollen nicht fehlen.
Aktuell geraten die Schilderungen ehemaliger Häftlinge aus GULag und nationalsozialistischem Konzentrationslager vermehrt in den Blick der Wissenschaft. Nicht zuletzt dient die Lagerliteratur einem kritischen Hinterfragen der persönlichen Vorstellungen von Sittlichkeit und führt unweigerlich zu Reflexionen über das eigene Verhalten in vergleichbaren Ausnahmesituationen. Damit ist das Thema von ungebrochener Aktualität. Frankl und Šalamov machen deutlich, dass die reale Chance existiert, in der Situation des Lagers nicht zum Wolf für den Mensch […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.3 Die Arbeits- und Haftbedingungen

Josef Stalin soll an der Ausgestaltung von Dal’stroj selbst großen Anteil gehabt haben. Er beschrieb den Industriekomplex wie folgt:

Dal’stroj ist ein Kombinat besonderen Typs, das unter spezifischen Bedingungen arbeitet; diese Spezifik erfordert besondere Arbeitsbedingungen, eine besondere Dis­zi­plin, ein besonderes Regime.[1]

Nach Stettner gehörten die „Lebens- und Arbeitsverhältnisse an der Kolyma und im gesamten DALSTROI […] zu den furchtbarsten und tödlichsten überhaupt“[2]. Aleksandr Solženicyn nennt das Gebiet den „Kälte- und Grausamkeitspol des Archipels“[3]. Šalamov zufolge hatte der „Goldbergbau [...] beständig Abgänge: in Krankenhäuser, […] in sogenannte Erholungskommandos, Invalidensiedlungen und Massengräber.“[4]

Die erste Phase von Dal’stroj unter Eduard Bersin (1932-1937) hebt sich von der brutalen Wirklichkeit der Folgejahre ab.[5] Ein spezielles Bonussystem ermöglichte es, die Haftzeit durch gute Arbeit erheblich zu verkürzen. Zudem habe es nach Roy Medvedev „exzellentes Essen“ und „vortreffliche Kleidung“ gegeben. Auch von einer „guten Bezahlung“ ist die Rede.[6] Die tägliche Arbeitszeit soll je nach Jahreszeit 7-10 Stunden betragen haben.[7] Den Charakter einer „Massenvernichtungsmaschinerie durch Arbeit“ erhielt die Kolyma-Region insbesondere seit dem Jahr 1937. Auf dem Hintergrund des stalinistischen „Großen Terrors“ waren durch die Zunahme der Verfolgungen aus politischen Gründen immer mehr Häftlinge in die Region verschickt worden. Auch innerhalb der Lager kam es zu verschärfter Repression.[8] Massenerschießungen, Folter, tausendfache willkürliche Verlängerungen der Haftzeiten und zahllose Neuinternierungen ehemaliger Häftlinge waren üblich.[9] Ab Mitte Juni 1938 ließ der Dal’stroj -Chef Pavlov die tägliche Arbeitszeit auf 16 Stunden verlängern, nachdem die Bezahlung der Häftlinge bereits Ende Dezember 1937 erheblich reduziert worden war. Ein neues Versorgungssystem koppelte die Größe der Essensrationen an eine utopische Normerfüllung. Panikarov zufolge erhielt man je nach Arbeitsleistung zwischen 400 und 1200 Gramm Brot täglich.[10] Auch offiziell mussten die Häftlinge bei Temperaturen bis zu minus 50 Grad arbeiten.[11] Ein unbenannter Zeitzeuge äußert sich wie folgt über die immens verschlimmerte Lebens- und Arbeitssituation:

Krankheiten breiteten sich aus, das gesamte Lager war körperlich am Ende, die Menschen starben wie Fliegen. Schaut man sich die Sterblichkeitsrate von 1938 an, dann sieht man, dass seit der Gründung des Dal‘stroj noch nie so viele Menschen umgekommen waren wie in diesem Jahr. Todesursachen waren vor allem körperliche Erschöpfung und Erfrierung. An manchen Tagen gab es in der Goldmine zwischen 10 und 15 Tote.[12]

Panikarov spricht allein für das Jahr 1938 von insgesamt 10.251 Todesopfern.[13] Als Folge der Ausfälle durch Tod und Krankheit brachen die Produktionszahlen von Dal’stroj zunächst ein. Eine massive Zuführung neuen „Humanmaterials“ konnte die Ausfälle jedoch kompensieren und die Produktion steigern.[14] Darüber hinaus machte die Häftlingsstruktur den Insassen zu schaffen. Der erhöhte Anteil der „Kriminellen“ gegenüber den politischen Häftlingen trieb die Verrohung innerhalb der Lager voran.

Stettner geht von einer jährlichen Sterberate im Dal’stroj von durchschnittlich bis zu 30 Prozent und 700.000 bis drei Millionen Toten für den gesamten Zeitraum aus.[15] Die auf Archivforschungen von Alexandr Kozlov in Magadan basierenden Angaben Panikarovs weisen hingegen eine Todesrate von etwa 16 Prozent auf. Demnach seien insgesamt zirka 870.000 Menschen[16] in Lagern an der Kolyma inhaftiert gewesen, von denen schätzungsweise 141.000 durch Hunger, Kälte, Zwangsarbeit, Krankheit, Erschießen oder andere Umstände umgekommen seien.[17]

Die maximale Ausbeute menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf Verluste charakterisierte die Realität des Sevvostlag bis zum Tode Stalins. Die brutalste Phase von Dal’stroj erlebten die Häftlinge zwischen 1937 und 1953. Der Schriftsteller Varlam Šalamov verbrachte in diesem Zeitraum 14 Jahre in Lagern an der Kolyma.

3. Šalamov und Frankl: Leben und Lebenswerk

3.1 Varlam Šalamov

Was ich im Lager gesehen und erkannt habe […]

Die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation. Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie – unter Schwerstarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen.[18] (Varlam Šalamov)

Am 1. Juli 1907 wurde Varlam Šalamov in Wologda geboren. Bereits in der Jugend gewann er die Leidenschaft für Literatur, namentlich für Poesie. Entsprechend dem geistigen Umfeld, in dem er aufwuchs, begeisterte er sich für die russischen Sozialrevolutionäre und Sozialutopien überhaupt. Im Jahr 1924 brach er nach Moskau auf, wo er sich zunächst literarisch betätigte. Bald begann er, Jura zu studieren und engagierte sich in den Reihen der Opposition gegen Stalin. Wegen der Verbreitung von „Lenins Testament“[19] verurteilte man ihn 1929 als „sozial gefährliches Element“ nach dem berüchtigten Paragraphen 58 zu einer dreijährigen Lagerhaft. Nach der Entlassung 1932 kehrte er nach Moskau zurück. Der zweiten Verhaftung im Januar 1937 aufgrund „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeiten“ folgte die Verurteilung zu fünf Jahren „Arbeitsbesserungslager“ in der Kolyma-Region. Šalamov verbrachte dort insgesamt vierzehn Jahre in unterschiedlichen Arbeitslagern. 1943 war er noch im Lager wegen „konterrevolutionärer Propaganda“ erneut verurteilt worden. Nach vielen Jahren unmenschlich harter Arbeit in verschiedenen Minen und Lagern, in denen er dem Tod häufig näher gewesen sei als dem Leben, übte er in den letzten Jahren eine einfachere Tätigkeit als Arzthelfer aus. Diese privilegierte Position rettete ihm wohl das Leben: Er begann wieder zu dichten. Im Oktober 1951 wurde Šalamov aus dem Lager entlassen, blieb jedoch als Verbannter weitere drei Jahre in der Kolyma. Erst im Jahr 1956 kehrte er nach Moskau zurück. Bis zu seinem Lebensende in einer Moskauer Nervenheilklinik am 17. Januar 1982 litt er an den körperlichen und seelischen Folgen der langen Haft. Diesem wohl prägendsten Abschnitt seines Lebens sind die Erzählungen aus Kolyma (1954) gewidmet.[20]

Das Werk besteht aus sechs Zyklen verschiedener Kurzgeschichten, an denen Šalamov nahezu zwanzig Jahre schrieb (von 1954 bis in die frühen 1970er Jahre) und zählt heute zu den wohl eindrucksvollsten literarischen Texten über das Leben der Häftlinge im Dal’stroj. Dennoch konnte es keine Breitenwirkung erzielen. Die prosaischen Erzählungen blieben in der Sowjetunion zunächst verboten, kursierten aber im russischen Samizdat und wurden in Zeitschriften der russischen Emigration veröffentlicht. Zugleich erschienen erste Sammelbände auf Englisch und Deutsch.[21] Von diesen nicht autorisierten Publikationen distanzierte sich der Autor öffentlich, indem er es vehement ablehnte, der Welt als „heimlicher Antikommunist“ und „innerer Emigrant“ präsentiert zu werden. Sein eigenes Lebenswerk diskreditierte er in der russischen Literaturzeitung Literaturnaja Gazeta mit den Worten: „Das Leben ist weitergegangen und das Thema der „Erzählungen aus Kolyma“ ist schon lange nicht mehr aktuell […].“[22] Diese Distanzierung widerspricht Überzeugungen des Autors. Nicht zuletzt lassen sich pragmatische Gründe vermuten; blieb doch das Sprechen über den GULag in der poststalinistischen Sowjetunion weitgehend tabuisiert. Eine Zuwiderhandlung hätte erhebliche Nachteile mit sich gebracht: „Bei meiner ohnehin schon schweren Biographie fehlte mir bloß noch die Verbindung zu Emigranten.“[23] Von Publikationen wie die seiner Gedichte war er finanziell abhängig.[24] Die kompositionelle Geschlossenheit seines Werkes und somit die Veröffentlichung als Ganzes war ihm ein Herzensanliegen. Dazu kommt die konsequente Verweigerung einer antisowjetischen politischen Instrumentalisierung.[25] Dies trug auf dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts nicht zu seiner Popularität im Westen bei, ebnete ihm aber den Weg zu weiteren Veröffentlichungen innerhalb der Sowjetunion. Erstmalig vollständig erschienen die Erzählungen aus Kolyma während der Peresrojka Ende der 80er Jahre.[26] Ein kurzer Boom setzte ein und verebbte schließlich im Verlauf der 90er Jahre, als man dem Lagerthema insgesamt weniger Aufmerksamkeit schenkte.[27] Ein tieferer Grund, warum Varlam Šalamov vergleichsweise wenig Anklang fand, könnte in der ästhetischen Konsequenz liegen, die der Autor in literarischer Hinsicht aus seinen Erfahrungen zieht. Erst seit jüngster Zeit wird das Werk zunehmend in seinem radikalen künstlerischen Anspruch ernst genommen.[28] Heute liegen alle sechs Zyklen seiner Kurzgeschichten in einer vierbändigen deutschen Übersetzung von Gabriele Leupold vor.[29]

Šalamov betont, dass die Charaktere seiner Erzählungen jeglicher individueller Züge entbehren.[30] Solženicyn sieht in den wechselnden Namen „ein formales Mittel, um das Biographische zu verstecken.“[31] Šalamovs Nachlassverwalterin und Herausgeberin seiner Werke Irina Sirotinskaja bestätigte den autobiographischen Charakter der Protagonisten.[32] Zudem finden sich im gesamten Werk „Ich-Erzählungen“ und etliche lebensgeschichtliche Bezüge. Zweifelsfrei sind die Erzählungen aus Kolyma in erheblichem Maße von persönlichen Erfahrungen geprägt. Daher geschieht in dieser Arbeit die namentliche Identifikation des „Lyrischen Ichs“ mit der Person des Autors ohne eine Abweichung gänzlich auszuschließen.[33]

3.2 Viktor Frankl

Wir haben den Menschen kennengelernt wie vielleicht bisher noch keine Generation. Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.[34] (Viktor Frankl)

Am 26. März 1905 wurde Viktor Frankl als Kind gläubiger Juden in Wien geboren. Bereits im Alter von drei Jahren soll er den Wunsch geäußert haben, Arzt zu werden. Sein Interesse galt der Psychologie. Schon als Gymnasiast führte er regelmäßig Korrespondenz mit Sigmund Freud. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er ab 1930 als Psychiater und Psychotherapeut am Psychiatrischen Universitätsklinikum Wien. Seine Facharztausbildung für Neurologie und Psychiatrie schloss er 1936 ab und richtete im Anschluss eine private Praxis ein. Aufgrund der Verschärfung der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten bekam er ein Ausreisevisum für die USA. Aus Liebe zu seinen Eltern ließ er es 1941 verfallen. Im September 1942 folgte die Deportation gemeinsam mit seiner Frau Tilly und den Eltern ins Konzentrationslager Theresienstadt. Mit 81 Jahren erlag sein Vater dort den Folgen der Unterernährung. Die Mutter wurde in Auschwitz vergast. Tilly starb kurz vor Kriegsende in Bergen-Belsen. Auch der Bruder Walter August fiel dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer. Frankl selbst überlebte als Zwangsarbeiter die Konzentrations- und Vernichtungslager Theresienstadt, Auschwitz und die Außenlager Dachaus (Kaufering III und Türkheim). Die meiste Zeit arbeitete er als Erdarbeiter oder beim Bahnbau als Streckenarbeiter.[35] Am 27. April 1945 wurde er aus dem Arbeitslager Türkheim befreit. Nach 1945 setzte Frankl seine Karriere fort. 1948 habilitierte er sich in Neurologie und Psychiatrie. Er erhielt Gastprofessuren an mehreren amerikanischen Universitäten, unter anderem in Harvard (1961), sowie den Lehrstuhl für die durch ihn begründete „Logotherapie“ an der Universität in San Diego. Im Wintersemester 1996 hielt er seine letzte Vorlesung an der Wiener Universität. Am 2. September 1997 verstarb Frankl in seiner Heimatstadt und wurde im engsten Kreis beigesetzt.[36] Sein Lebenswerk geriet hierzulande nicht in dem Ausmaß in das öffentliche Bewusstsein, wie es die Inhalte verdienen.[37]

Professor Frankl hat seine Erlebnisse im Konzentrationslager in dem 1946 publizierten Werk …trotzdem Ja zum Leben sagen zusammengefasst. Hier setzt er sich mit der Psyche der Häftlinge auseinander. Das Buch erschien zunächst in Wien, wurde aber insbesondere in den USA bekannt, wo es über zweimillionen Mal verkauft wurde.[38] Daneben existieren auch rein theoretische Abhandlungen über die seelische Verfassung von Häftlingen im Konzentrationslager, die sich an den Ergebnissen namhafter Wissenschaftler und den eigenen Erfahrungen orientieren. Seine Erfahrungen im Konzentrationslager dienen unter anderem als Grundlage der durch Frankl begründeten Logotherapie. Diese versucht orientierungslos gewordenen Menschen auf den Weg zu einem individuellen Sinn im Leben zu helfen.[39]

4. Der Lagermensch

Ja, der Mensch ist zäh! Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt, mir scheint, das ist die beste Definition, die man von ihm geben kann.[40] (Fiodor Dostoievski)

4.1 Hunger

Eine erhebliche Unterernährung der Häftlinge ist Merkmal beider Lagersysteme. Viktor Frankl sagt über sich, dass er bei einem Gewicht von 40 Kilogramm im Lager zwischenzeitlich von lediglich 850 Kalorien pro Tag leben musste.[41] In der letzten Zeit habe die tägliche Nahrung aus einer einmal am Tag verabreichten wässrigen Suppe, einer kärglichen Brotration (300g) sowie einer „Zubuße“ von 20g Margarine, minderwertiger Wurst oder Kunsthonig bestanden.[42] Die Ernährungswissenschaftlerin Christine Stahl spricht von durchschnittlich 800 – 1000 Kalorien pro Tag und Häftling im deutschen KZ. Gemessen an der schweren Arbeit wären 4.200 bis 4.400 für Männer und 3.200 bis 3.300 Kalorien für Frauen nötig gewesen.[43] Diese allgemeinen Bedarfswerte gelten auch für den GULag. Die außergewöhnliche Kälte an der Kolyma dürfte den Energiebedarf jedoch zusätzlich gesteigert haben. Das Lager war nach dem „Prinzip der Fütterung“ (kotlovka) organisiert. Mittels festgelegter Verpflegungskategorien trieb man die Häftlinge zu härterer Arbeit: Im Jahr 1937 habe es täglich je nach erfüllter Arbeitsnorm 1000, 800 oder 600 Gramm Brot gegeben.[44] Die Strafration wird mit 300 Gramm angegeben.[45] Panikarov zufolge sei die Sollerfüllung Ende 1938 lediglich von 30 Prozent der Häftlinge erreicht worden, in einigen Goldminen von unter 10 Prozent.[46] Die durch den Hauptenergielieferanten Brot verabreichte Kalorienzahl dürfte zwischen 600 und 2000 gelegen haben. Weitere Zugaben waren Tee, Suppe sowie Zucker und konnten aus kleinen Portionen Fisch oder Wurst bestehen.

Nach dem Psychologen Abraham Maslow (1908-1970) lässt erst die Befriedigung der unmittelbaren physiologischen Notwendigkeiten weitere Ebenen menschlicher Bedürfnisse wirksam werden.[47] Im Lager steht aufgrund chronischer Unterernährung der Nahrungstrieb im Mittelpunkt. Die individuelle Beziehung des Lagerinsassen zur Nahrung und ihr unermesslicher Wert für den Delinquenten drücken sich in der Lagerliteratur aus. Primo Levi schreibt über die Bedeutung des Brotes: „Brot […], dieser heilige graue Würfel, der dir in der Hand deines Nächsten so riesig vorkommt und in deiner eigenen so klein, daß du weinen könntest.“[48] Was von Seiten der Lagerleitung letztendlich bloß der notwendige Garant für den Erhalt der erwünschten Arbeitsleistung ist, bedeutet für den Häftling Leben. Neben den Notwendigkeiten des Alltags spielt in der Novelle des Aleksandr Solženicyn „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ die Sorge um die unverzichtbare Nahrung und der Genuss derselben die zentrale und sinnstiftende Rolle im Leben des Häftlings Šuchov.[49]

Varlam Šalamov widmet dem Brot eine ganze, gleichnamige Erzählung: Geradezu als Heilsbringer wird der Austeiler der Essensrationen von tausenden Menschen erwartet. Eine genaue Beschreibung des ihn umgebenden Lichtscheins im Eingang der Baracke untermalt die quasi sakrale Bedeutung der Erscheinung. Die Größe der individuellen Ration wird zu einer „Sache des Glücks – der Karten in diesem Spiel mit dem Hunger“. Alltäglich erscheint, „daß zehn Gramm mehr oder weniger […] zu einem Drama führen können, vielleicht zu einem blutigen Drama. […] Tränen sind häufig, sie verstehen alle, und über Weinende lacht man nicht“. Durch „Streicheln“ und „Drücken“ des Heringsschwanzes erfolgen die genaue Analyse der Mahlzeit und ihre ökonomische Bewertung. Stets wird auf ein „Wunder“ gehofft, dass sich zum Beispiel in einer etwas fettreicheren Portion ausdrücken könnte. Schließlich isst der Häftling den Hering nicht, sondern „er leckt, er beleckt ihn, und das Schwänzchen verschwindet allmählich aus den Fingern“. Die Tagesration von 500 Gramm Brot werden gelutscht „wie ein Bonbon“, jedoch „sofort, so kann es niemand stehlen und niemand wegnehmen“. Nebenbei berichtet Šalamov von zahllosen theoretischen Diskursen der Häftlinge bezüglich der Zusammensetzung von Mahlzeiten und Verzehrweisen.[50] Auch Frankl kennt „endlose Debatten“ über Taktiken des Verzehrs der knapp bemessenen Rationen. Die weit verbreitete Attitude der Häftlinge, sich ihre Lieblingsspeisen und ganze Menüs auszumalen und diese untereinander zu kommunizieren, sei im Lager als „Magenonanie“ bezeichnet worden. Entsprechende Träume der Hungernden liegen auf der Hand.[51] „Brotlaibe, die durch die Luft flogen und alle Häuser, alle Straßen, die ganze Erde erfüllten“ bezeichnet Šalamov als „ständigen Kolyma-Traum“.[52] Die Empfindung des Zustandes eines permanenten Denkens an Nahrung als „menschenunwürdig“ spricht Frankl „gerade den Besten“ zu.[53]

4.2 Zwangsarbeit

In der Sowjetunion galt Häftlingsarbeit bereits seit den ersten Wochen bolschewistischer Herrschaft der Umerziehung und Resozialisierung im Sinne des Sozialismus.[54] Zwangsarbeit fand zur Bestrafung vermeintlich politischer Gegner Anwendung.[55] Mit Einführung der zentralen Planwirtschaft (1929) unter Stalin wurde die Zwangsarbeit zu einem bedeutsamen volkswirtschaftlichen Faktor weiterentwickelt.[56] Das System der „Besserungsarbeitslager“ vereinheitlichte und zentralisierte sich zugunsten der Produktivität: Den Höhepunkt der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft markiert der sprichwörtlich gewordene stalinistische GULag.[57] Wie bereits dargelegt, spielte die Kolyma in Bezug auf Grausamkeit und Haftbedingungen eine traurige Sonderrolle. Nicht nur Kälte, Hunger und Erschießen forderten zahllose Opfer: Der Tod durch Arbeit lag im Kalkül der Herrschenden.

In den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten spielte der Arbeitsbesserungs- und Rehabilitationsgedanke in der Anfangszeit durchaus eine Rolle: Dies suggeriert der zynische Schriftzug „Arbeit macht frei“ am Eingang der Lager Dachau und Auschwitz.[58] Frühe Versuche der SS, von den Lagern wirtschaftlich zu profitieren, blieben unrentabel. Im Zuge nationalsozialistischer Vernichtungspolitik lässt sich für die zweite Kriegshälfte eine planmäßige „indirekte“ Massenvernichtung durch Arbeit und Auszehrung ausmachen. Insbesondere in der Waffenproduktion kompensierten Zwangsarbeiter den kriegsbedingten Ausfall männlicher Arbeitskraft.[59] Wirtschaftlich erlangte das NS-Zwangsarbeitersystem nie die Bedeutung wie in der UdSSR. Das dortige Lagersystem erstreckte sich zudem über einen rund dreimal längeren Zeitraum.

In der berühmten Novelle Aleksandr Solženicyns wird die Arbeit positiv und als geradezu sinnstiftend für den Häftling beschrieben. Sie spendet Trost, Anerkennung, Wärme und Heiterkeit. Das gemeinsame Ziel höherer Brotrationen schweißt die Brigade zusammen. Somit bedeutet die Arbeit Leben.[60] Für Šalamov ist das von seinem Leidensgenossen und zeitweiligem Freund dargestellte Lager ein „nicht ganz echtes“.[61] Ein Brief führt dem berühmten Dissidenten die Realität der Kolyma vor Augen: „Der normierte Arbeitstag hatte vierzehn Stunden, man wurde rund um die Uhr bei der Arbeit gehalten, und was für einer Arbeit.“ Er spricht von einer geradezu planmäßigen Vernichtung der politischen Häftlinge. Im Jahr 1938 habe man offiziell bei Temperaturen von minus 56 Grad arbeiten müssen und nach 1947 immerhin noch bei minus 46 Grad.[62] Entsprechend seiner Ansicht, dass das Lager niemals irgendjemand etwas Positives habe geben können, beurteilt er auch die „erniedrigende und schreckliche Arbeit im Lager“[63] durchweg negativ: „Der Häftling lernt dort die Arbeit hassen – er kann dort auch nichts anderes lernen.“[64] Eine wesentliche Rolle spielt der Frost. Davon vermittelt die Erzählung Zimmerleute einen Eindruck: Auch ohne Thermometer kann die Temperatur durch den Häftling Potaschnikov bestimmt werden: „Bei über fünfzig Grad – gefriert die Spucke in der Luft.“ Nachts frieren die Haare trotz des kleinen Ofens in der Baracke am Kissen fest. Für die Häftlinge ist das Sammeln von Brennholz mit einem lebensgefährlichen abendlichen Weg von vier Kilometern verbunden. Bei der Arbeit ergreift den Protagonisten ein sehnlicher Wunsch, sich „entweder zu wärmen oder sich auf die spitzen gefrorenen Steine zu legen und zu sterben“. Zur einzigen Möglichkeit „bis zum Mittagessen nicht zu erfrieren“ wird die Ertüchtigung durch die Arbeit. Nur eine kurzfristige Tätigkeit in etwas geheizter Umgebung als Zimmermann sowie ein leichter Anstieg der Temperatur retten ihn schließlich vor dem Kältetod.[65] An anderer Stelle wird dem Grubenchef eines Goldbergwerkes folgende Ausführung über den Zusammenhang zwischen Frost und Arbeit in den Mund gelegt:

Die Arbeit […] presst ihnen nur der Frost ab. […] Sie rudern mit den Händen, um sich zu wärmen. Und wir legen Hacken und Schaufeln in diese Hände – ist es nicht ganz egal, womit man rudert – stellen ihnen Schubkarre, Körbe, Loren hin, und das Bergwerk erfüllt den Plan. Bringt uns Gold.[66]

Die Arbeit im Goldbergwerk nennt Šalamov das Schlimmste: Man habe sich mitunter bewusst mit Tuberkulose angesteckt um ins Krankenhaus anstatt „ins Gold“ zu gelangen.[67] Umso positiver hebt sich die spätere Tätigkeit als Arzthelfer ab.

Viktor Frankl äußert sich wenig explizit zur Arbeit. Schwere Zwangsarbeit war nicht nur die alltägliche Realität seiner Haft sondern im unmittelbarsten Sinn die einzige Möglichkeit zu überleben. Seit Sommer 1942 war der Völkermord an den europäischen Juden in die radikalste Phase der systematischen Vergasung übergegangen.[68] Frankl berichtet von den Tipps eines Mithäftlings nach der Ankunft in Auschwitz: „Wollt ihr am Leben bleiben, dann gibt es nur ein Mittel: den Eindruck der Arbeitsfähigkeit erwecken. Es genügt hier, daß ihr wegen einer kleinen, banalen Verletzung, wegen einer Schuhdruckstelle hinkt.“[69] Die Alternative zur physischen Einsetzbarkeit war die „Entsorgung“ des arbeitsunfähigen und somit nach SS-Logik unrentabel und wertlos gewordenen Körpers mittels Gas und Krematorium. In den Gaskammern erfuhr das Töten eine unvorstellbare Effizienzsteigerung. Das Sterben hunderter Individuen wurde durch einen einzigen Tötungsvorgang verursacht. Auch die Minimalversorgung der arbeitenden Häftlinge bedeutete für die Lagerleitung nichts weiter als eine schlichte Kosten-Nutzen-Rechnung. Ab einem gewissen Punkt des körperlichen Verfalls wurde jede weitere Versorgung unwirtschaftlich. Eine augenscheinlichere Degradierung des Menschen zum bloßen Arbeitsmaterial ist nicht denkbar.

In die Betrachtung vom Lagermenschen als bloßes Mittel zum Zweck der Arbeit fügt sich eine unscheinbar wirkende Anekdote Frankls: Beim Arbeitseinsatz auf offener Bahnstrecke wird eine kurze Atempause von der Wache bemerkt. Der Wurf eines vom Boden aufgehobenen Steines in die Richtung des Häftlings stellt die Reaktion dar. Der Autor schildert den seelischen Schmerz darüber, „daß dieser Posten es nicht einmal der Mühe wert findet, die herabgekommene und zerlumpte Gestalt, die nur mehr noch von ungefähr an eine menschliche Gestalt erinnern mag […], eines Schimpfwortes zu würdigen. […] so erinnert man ein Haustier an seine ‛Arbeitspflicht’, ein Tier zu dem man so wenig Beziehung hat, daß man es ‛nicht einmal’ straft.“[70] Auch spricht er vom Neid auf Fabrikzwangsarbeiter, da sie in geschlossenen Räumen arbeiteten; oder auf Mithäftlinge, die weniger Brutalitäten durch die Aufseher ausgesetzt waren. In einer entsprechend berüchtigten Arbeitsgruppe habe lediglich ein Fliegeralarm ihn davor bewahrt, auf demjenigen Schlitten ins Lager zurückzukehren, „auf dem die den Erschöpfungstod sterbenden oder schon toten Kameraden gefahren wurden.“[71] Eine positive Bewertung der Arbeit lässt sich analog zu Šalamov nicht ausmachen.

4.3 Gewalt und Tod

Die Sterblichkeitsraten an der Kolyma und in den KZ der Nationalsozialisten[72] sind statistisches Merkmal der Allgegenwärtigkeit von Gewalt und Tod im Lager. Hinzu kommt das unermessliche Leid durch Krankheit, Seuchen, Hunger und Kälte sowie die Alltäglichkeit von Demütigungen und Brutalität durch Aufseher und Mithäftlinge. Eine physische und seelische Toleranzentwicklung liegt im Sinne Dostoievskis auf der Hand und erscheint überlebensnotwendig für den Lagerinsassen. Fortschreitendes „Abtöten der normalen Gefühlsregungen“ bewirke Teilnahmslosigkeit etwa beim Anblick der brutalen Bestrafung von Kameraden. Beispielhaft ist bei Frankl auch ein Erlebnis aus der Ambulanz: Das Abzupfen abgestorbener und schwarz gewordener Zehenglieder von den Gelenken eines zwölfjährigen Jungen habe keine Gefühlsreaktion beim Zuschauer verursacht. Ein völliges Fehlen von Ekel, Grauen, Mitleid und Empörung beim Anblick von Leid, Brutalität und Demütigung stellt er der Geläufigkeit des entsprechenden Anblicks in Rechnung.[73] Bald nach der Aufnahme ins Lager verliert der Tod seinen Schrecken. Mit Verweis auf einen Kaminschlot wird dem Häftling Frankl der Zweck der ersten Selektion erklärt: „Dort schwebt dein Freund in den Himmel“.[74]

In Auschwitz fürchtet der Häftling, der noch im Schockstadium steht, den Tod ganz und gar nicht; ihm ist in den ersten Tagen seines Aufenthalts die Gaskammer längst kein Schrecken mehr, in seinen Augen stellt sie lediglich etwas dar, was den Selbstmord erspart.[75]

Die Gleichgültigkeit des Lagermenschen setzt er in Verbindung mit einer Unempfindlichkeit gegenüber den zu ertragenen Schlägen. Jedoch möchte er die „höchst notwendige Panzerschicht“ nur auf den körperlichen Aspekt bezogen wissen. Ungerechtigkeit und Grundlosigkeit der Brutalität hätten ihren Niederschlag in seelischem Schmerz gefunden.[76] Die Lagerwache unterteilt er in bewusst ausgewählte Sadisten „im strengen klinischen Sinne“ und einen Großteil durch die Erfahrungen abgestumpfter und im Gemütsleben verhärteter Menschen. Doch weiß er auch von „Saboteuren“ innerhalb der SS zu berichten, die unter Einsatz ihres Lebens Häftlingen geholfen hätten.[77]

Während Frankl bei der Schilderung der Brutalität des Lagers stets um Distanz und Erläuterung bemüht ist, geschieht diese in den Erzählungen aus Kolyma schonungslos direkt. Es zeigt sich die ästhetische Konsequenz des Autors aus der Erfahrung des nordostsibirischen GULags. Eine Passage schildert die Beugung des Willens unter Brutalität und entlarvt Vorstellungen von Widerstand als naiv:

Ich brachte mich leicht dahin, es zu ertragen und fand nicht die Kraft für einen Gegenschlag, für den Selbstmord, für den Protest.[78]

„Nicht stärker als ein Windstoß“ wird der Faustschlag des Vorarbeiters wahrgenommen: „Ich fiel hin, stützte mich mit den Händen und leckte mit der Zunge etwas Süßes, Klebriges, das aus den Mundwinkeln sickerte.“ Als „erste von Hunderttausend Backpfeifen“ sei sie in Erinnerung geblieben. Sich anschließende Fußtritte bereiten keinerlei Schmerz.[79] Rettenden Trost finde der Häftling durch das im Lager vorherrschende „Gefühl der Uferlosigkeit der Erniedrigungen, das […] Gefühl, dass immer, in jeder Situation, irgendjemand schlechter dran ist als du“.[80] Reflexionen über die seelische Beschaffenheit von Aufsehern entlarven die Verführbarkeit des Menschen durch absolute Macht:

Macht bedeutet Zerstörung. Das von der Kette gelassene wilde Tier, das sich in der menschlichen Seele verbirgt, sucht die gierige Befriedigung seines ewigen gierigen menschlichen Wesens im Schlagen, im Morden.[81]

Eine kurze Novelle verdient der erste persönlich miterlebte Todesfall.[82] Bald wird das allgegenwärtige Sterben zu einer Nebensächlichkeit und alltägliche Todesgefahr spielt im übertragenen Sinn die latente Begleitmusik der Kolyma; nicht nur bedrohlich, sondern bisweilen auch hoffnungsvoll im erlösenden Sinn. Formulierter Neid auf den Selbstmord von Mithäftlingen, der ihnen die Lagerhaft im sibirischen Nordosten erspart habe, ist entsprechend aufzufassen.[83] Als Maßstab des Schreckens gilt „eine Existenz, für die es keine Formeln gibt und die man nicht Leben nennen kann.“[84] Schonungslos wird der geschundene und kranke Körper thematisiert. Scham wird für die Kolyma als „zu menschlich“ abgetan. Auch in der literarischen Verarbeitung findet sie keinen Platz. Ohne Umschweife geschieht die Behandlung des Stuhlgangs, den der Häftling „bei normaler Lagernahrung […] einmal in fünf Tagen“ gehabt habe. Mit aller „Erbitterung“ wird der eigene Darm in der Erzählung „Der Handschuh“ dazu gebracht, „ein Klümpchen Schleim von grau-grüner Farbe mit dem kostbaren roten Faden – einem Streifen von besonderem Wert“ auszuwerfen, „den Start in die Unsterblichkeit“. Mit der blutigen Stuhlprobe erwirkt der Kranke die Einweisung ins Hospital.[85] Gesundheitliche Folgen der Haft finden Niederschrift ohne jede emotionale Komponente: Das Abschälen der Haut „in Schuppen, sogar in Schichten“, erfrorene Finger und Zehen, verkümmerte Glieder oder eitrige Erfrierungen des Knochenmarks.[86] An anderer Stelle wird die Veränderung des eigenen Stuhlgangs zum Symbol für die Rückkehr ins Leben:

Nach dem Wiederestehen […] saß der Häftling über dem „Auge“ und nahm mit Interesse wahr, wie etwas Weiches durch seinen wunden Darm kriecht, nicht schmerzhaft sondern zärtlich und warm […]. Das ist ein Anfang, ein Wunder.[87]

[...]


[1] Zitiert nach: Sprau: Gold, S. 69.

[2] Stettner: »Archipel GULag«, S. 221.

[3] Solschenizyn: Archipel Gulag 2, S. 118.

[4] Schalanow (sic!): „Artikel 58“, S. 111.

[5] Bollinger: Slave Ships, S. 15; Conquest: Kolyma, S. 43; Panikarov: Kolyma, S. 271. Conquest weist darauf hin, dass der Winter 1932 und das folgende Jahr wohl zahlreiche Todesopfer gefordert hätten. Als Grund nennt er die besondere Strenge des Winters 1932 und die schlechten Versorgungsmöglichkeiten der neu entstandenen Lager. Im Jahr 1933 sei die Todesrate durch Strapazen bei der Errichtung der „Straße nach Kolyma“ und die harte Arbeit in den neuen Minen sogar noch gestiegen: „The summer of 1933 is said to have cost more in human lives than even the previous winter.” Eine genaue Anzahl der Todesopfer in diesem Zeitraum nennt der Autor jedoch nicht. Conquest: Kolyma, S. 43.

[6] “Harsh as nature was in the Kolyma region, few people died in the Dal`stroi in the years 1932-1937. There existed a system of examinations which allowed ten-year sentences to be reduced to two or three years, excellent food and clothing, a workday of four to six hours in winter and ten in summer, and a good pay, which enabled prisoners to help their families and to return home with funds.” Medvedev: History, S. 508. Panikarov gibt für das Jahr 1933 eine monatliche Produktionsnorm von 24 Kilo Brot, 2,7 Kilo Grütze, 6,5 Kilo Fisch, 1,3 Kilo Fleisch, 800g Zucker, 200g Pflanzenfett, 800g Trockenfrüchte, 300g Früchte und „mindestens eine Dose Fleischkonserven“ an. Die Grundausstattung der Häftlinge mit Kleidung habe 1933 aus zwei Garnituren Unterwäsche, einem paar Schuhe oder Stiefeln, einer Feldbluse oder einem Wams, einer Mütze, einem Mantel oder einer Jacke, Sommerhosen oder wattierten Hosen und je einem paar Sommer- und Winterfußlappen bestanden. Zudem sei ein allgemeiner Lohn für Häftlinge gezahlt worden, der bei etwa 6 Rubeln und 75 Kopeken gelegen habe. Die Bezahlung von Fachkräften sei noch besser ausgefallen. Panikarov: Kolyma, S. 272. Eine Einzäunung der Lagergebiete war aufgrund der Weite des Gebietes und der unwirtlichen Verhältnisse zu dieser Zeit nicht notwendig.

[7] Panikarov: Kolyma, S. 271.

[8] Vorausgegangen war ein Beschluss der der KPdSU über die Verfolgung „antisowjetischer Elemente“ (selbst innerhalb der Lager) vom 2. Juli 1937.

[9] Zahlreiche Häftlinge wurden etwa aufgrund „konterrevolutionärer Tätigkeiten“ öffentlich zur Abschreckung in Magadan und andernorts erschossen. Panikarov spricht für die gesamte Zeit von Dal’stroj von rund 11.000 Todesopfern durch Erschießen. Panikarov: Kolyma, S. 283.

[10] Panikarov: Kolyma, S.282.

[11] Thun-Hohenstein: Schalamow, S. 306.

[12] Zitiert nach: Panikarov: Kolyma, S. 281.

[13] Ebd., S. 281.

[14] Allein 1938 sollen über 70.000 Häftlinge in die Kolyma-Region gebracht worden sein. Panikarov: Kolyma, S. 281. So konnte bereits 1939 das Soll wieder erfüllt werden und die Goldförderungsmenge von 66 Tonnen kam zustande. 1940 waren es 80 Tonnen.

[15] Stettner: »Archipel GULag«, S. 223. Sterberate: Mora spricht von 30 bis 45 Prozent durchschnittlicher Sterberate. Mora: Kolyma, S. 19. Die Angabe von Conquest entspricht der Stettners. Conquest: Anfang, S. 427. Conquest unterscheidet dabei in eine Sterberate von 25 Prozent bei „normalen Arbeitern“ und eine Todesrate von 30-35 Prozent bei Minenarbeitern. Conquest: Kolyma, S. 220. Todesopfer: Conquest gibt allein für den Zeitraum zwischen 1937 und 1941 über eine Million Todesopfer im Dal’stroj an. Conquest: Anfang, S. 425. 1937 – 1953 seien es zwei bis zweieinhalb Millionen gewesen. Conquest: Kolyma, S. 228. Mora spricht sogar von 16 Millionen Toten an der Kolyma. Mora: Kolyma, S. 16f.

[16] Kizny: Gulag, S.333-335; Panikarov: Kolyma, S. 283; Sprau: Gold, S.65.

[17] Panikarov: Kolyma, S. 283.

[18] Schalamow: Erzählungen 1, S. 289.

[19] Als „Lenins Testament“ bezeichnet man einen Brief des todkranken Lenins vom Dezember 1922 an den 12. Parteitag der KPdSU, in dem er vor Josef Stalin warnte.

[20] Informationen zu Varlam Šalamovs Leben aus: Schalamow: Erzählungen 1, S. 325-327; Thun-Hohenstein: Poetik, S. 35-52; Thun-Hohenstein: Schalamow, S. 297-321.

[21] Ein Beispiel ist der bereits zitierte Band: Schalanow (sic!): Artikel 58. Der korrekte Wortlaut des Nachnamens ist nicht berücksichtigt worden.

[22] Šalamov: Literaturnaja Gazeta, S. 106.

[23] Zitiert nach: Thun-Hohenstein: Poetik, S. 38.

[24] Sicher hat die Angst vor der Unmöglichkeit weiterer Publikationen auf sowjetischem Staatsgebiet mitgewirkt. Dabei ging es Šalamov nach Thun-Hohenstein aufgrund der finanziell schwierigen Lage ums „nackte Überleben“: Thun-Hohenstein: Poetik, S. 38.

[25] Wie noch zu zeigen sein wird, lehnte Šalamov die humanistische Literatur mit den erzählerischen Literaturgattungen aufgrund ihrer intendierten Einflussnahme in moralischer Hinsicht ab. Daher wollte er auch seine Literatur nicht moralisierend instrumentalisiert wissen. Thun-Hohenstein: Poetik, S. 38. Die kompositionelle Geschlossenheit sei wesentlich für den starken Eindruck der Erzählungen: Šalamov: Prosa, S. 191f. Eine nichtplanmäßige Auswahl der Erzählungen bei den ausländischen Publikationen konnte nur das Missfallen des Autors erregen.

[26] Thun-Hohenstein: Poetik, S. 37.

[27] Schmid: Nicht-Literatur, S. 90.

[28] Städtke: Sturz, S. 138. Nicht zuletzt wird dies auch durch das Erscheinen des Varlam Šalamov gewidmeten Themenhefts in der Schriftenreihe Osteuropa deutlich, welches dem Autor eine besondere Bedeutung beimisst und seiner Literatur eine einzigartige Wirkung attestiert: Osteuropa 57 (=Themenheft: Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag). Der künstlerische Anspruch des Autors wird hier nur angedeutet und in den Kapiteln 5.2 und 5.3 eingehend behandelt werden.

[29] Schalamow: Erzählungen 1-4. Das Werk ist Grundlage dieser Arbeit.

[30] Šalamov: Prosa, S. 187.

[31] Solženicyn: Varlam, S. 159.

[32] Ebd., S. 159, Anmerkung 9.

[33] Dafür spricht auch die im letzten Band bisweilen auszumachende Anrede des „Ich-Erzählers“ mit dem Namen des Autors. Als Beispiel: Schalamow: Erzählungen 4, S. 369.

[34] Frankl: …trotzdem, S. 130f.

[35] Ebd., S. 21.

[36] Zur Lebensgeschichte Viktor Frankls: Längle: Viktor, S. 13-107.

[37] Sein Tod fand ein geringes Medienecho. Der tödliche Autounfall Diana Spencers Ende August und der Tod von „Mutter Teresa“ banden jegliche mediale Aufmerksamkeit.

[38] Frankl: …trotzdem, S. 9.

[39] Zur Bedeutung der Logotherapie: Frankl: Logotherapie. In dieser Darstellung sind jene Publikationen von Interesse, die sich mit dem Thema des Lagers befassen. Das Lebenswerk Frankls ist in einem vierbändigen Werk zusammengefasst: Batthyany; Biller; Fizzotti: Viktor, 2005-2011.

[40] Dostojewskij: Aufzeichnungen, S. 487.

[41] Frankl: Logotherapie, S. 259.

[42] Frankl: …trotzdem, S. 53.

[43] Stahl: Brot, S. 86.

[44] Erste Kategorie: 130 oder mehr Prozent der Normerfüllung; Zweite Kategorie: 110 bis 130 Prozent; Dritte Kategorie: 90-100 Prozent. Šalamov: Erzählungen 4, S. 377.

[45] Šalamov: Erzählungen 4, S. 377. Für den Zeitraum seit 1938 gibt Panikarov eine geringfügig höhere Staffelung an. Panikarov: Kolyma, S. 280.

[46] Panikarov: Kolyma, S. 281.

[47] Der Aufstieg seiner Bedürfnispyramide erfolgt von den „Defizitbedürfnissen“ zu den „Seinsbedürfnissen“. Die Hierarchie ist wie folgt: 1. Physiologische Bedürfnisse, 2. Bedürfnisse nach Sicherheit, 3. Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, 4. Bedürfnisse nach Wertschätzung, 5. Selbstverwirklichung. Die Theorie ist umstritten: http://www.social-psychology.de/do/PT_maslow.pdf, Zugriff am 07.08.2012.

[48] Levi: Ist das ein Mensch? S. 43.

[49] Solschenizyn: Ein Tag. Die Novelle skizziert, basierend auf eigenen Erfahrungen des Autors, einen Tag der Lagerhaft des fiktiven Häftlings Ivan Denissovič Šuchov. Der Autor kann jedoch nicht den Anspruch erheben, für die gesamte Lagergeneration zu sprechen, da es zahllose unverhältnismäßig viel härtere Schicksale als sein eigenes und das des fiktiven Häftlings Šuchov gibt. Die Bedeutung der Nahrung drückt sich etwa hier aus: „Mag auch die Bude abbrennen - kein Grund zur Eile. Den Schlaf ausgenommen, lebt der Lagerinsasse ausschließlich für sich nur morgens zehn Minuten beim Frühstück, beim Mittagessen fünf und beim Abendbrot fünf.“ Ebd., S. 20.

[50] Schalamov: Erzählungen 1, S. 113-122.

[51] Der Protagonist der oben zitierten Erzählung „Brot“ bekommt im Verlauf der Geschichte einen Arbeitseinsatz in der Brotfabrik. In der ganzen folgenden Nacht seien schließlich Brotlaibe im Traum an ihm vorübergezogen. Schalamov: Erzählungen 1, S. 122.

[52] Schalamov: Erzählungen 4, S. 47.

[53] Frankl: …trotzdem, S. 54.

[54] Bereits im zaristischen Russland hatte die Zwangsarbeit als katorga Tradition gehabt. Stettner: »Archipel GULag«, S. 45. Der „Leitfaden zum Strafrecht der RSFSR“ für 1919 definierte den Begriff der Strafe neu: Nicht greife der Vergeltungs-, Sühne- oder Rachegedanke im Arbeiter- und Bauernstaat, da individuelle Schuld nicht existiere und Ursachen für Verbrechen stets klassenbedingt seien. Vielmehr sei Haft „eine Maßnahme des gesellschaftlichen Schutzes“. Solschenizyn: Archipel 2, S. 135. Nach sozialistischer Ideologie war mit Sieg des Kommunismus längerfristig mit einem Verschwinden der Kriminalität zu rechnen. Dies sollten Umerziehung und Resozialisierung bewirken. Besserungsarbeit fand nicht ausschließlich in Verbindung mit den Lagern statt, sondern wurde auch von Nichtinaftierten in gewöhnlichen Betrieben oder im öffentlichen Interesse ausgeübt. Stettner: »Archipel GULag«, S. 45.

[55] Beide Häftlingsgruppen wurden zunächst in Unterschiedlichen Lagertypen untergebracht. Die Lager der „Staatssicherheit“ (Tscheka, bzw. OGPU und GPU) galten als weitaus brutaler. Eine Verordnung des „Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets Russlands“ (ZEK) richtete sich an die Tscheka und erkannte ihr praktisch das Recht zu, politische Gegner und Konterrevolutionäre in Konzentrationslagern festzuhalten. Kotek; Rigoulot: Jahrhundert, S. 130; Stettner: »Archipel GULag«, S. 58. Zudem könnten Zwangsarbeitslager überall und in unbegrenzter Anzahl errichtet werden. Heller: Stacheldraht, S. 54f.

[56] In den „Satzungen über die Haftverbüßungsorte“ von 1921 war die frühe Zielsetzung der Häftlingsarbeit formuliert worden. Sie enthielten die Anordnung, dass „der Unterhalt der Haftanstalten tunlichst durch die Arbeit der Häftlinge gedeckt werden sollte“. Solschenizyn : Archipel 2, S. 561. Bereits seit 1926 hatten Befürworter eines raschen Industrialisierungskurses der Sowjetunion mit Hinweis auf die geringen Kosten der Zwangsarbeit gefordert, die Häftlingsarbeit erheblich auszuweiten. Mit einer Verordnung zur Verlängerung der Haftzeiten (3. März 1928) und einem Gesetz zur Ausweitung der Einsatzbereiche von Häftlingsarbeit in ökonomischer Hinsicht (26. März 1928) wurde „der Weg für einen volkswirtschaftlich erkennbaren Beitrag der Lagerzwangsarbeit innerhalb der Fünfjahrespläne und damit zum Aufbau des Sozialismus gebahnt“. Stettner: „Archipel Gulag“, S. 9-10, 85-86. Zu Beginn des Jahres 1930 habe die Gesamtzahl der Gefangenen in der Sowjetunion bei etwa 200.000 gelegen. Jakobson; Smirnow: System, S. 13f. Das Lagersystem breitete sich über das gesamte Staatsgebiet aus. Zwangsarbeiter wurden zur Verwirklichung von Großbauprojekten und der Ausbeutung von Ressourcen in entlegenen Gebieten herangezogen. Zum Beispiel sollte Igarka durch GULag- Zwangsarbeiter mittels einer 1.300 Kilometer langen Polareisenbahn erschlossen werden. Auch der Weißmeer-Ostsee-Kanal (1931-1933) ist zu nennen. Zu den hydrotechnischen Großbauprojekten der Stalin-Ära: Gestwa: Wasser und Blut. Der volkswirtschaftliche Anteil der Zwangsarbeit ist in jüngster Zeit nach unten korrigiert worden. Ihr Anteil an der Energie- und Industrieproduktion habe nach den auf Archivforschung basierenden Angaben von Nicolas Werth nie mehr als acht bis zehn Prozent betragen. Werth: Gulag, S. 9.

[57] Im April 1930 war die GULag (Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager) der OGPU entstanden. Der Begriff GULag als Synonym für das gesamte Lagersystem der UdSSR hat hier seinen Ursprung. Im Juni/Juli 1930 wurde die Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager (GULag) der OGPU zur GULag des NKVD. Stettner: »Archipel GULag«, S. 125, 132-133. Die Anzahl der in „Besserungsarbeitslagern“ inhaftierten Personen betrug zu dieser Zeit bereits über eine halbe Million. Gestwa: Wasser und Blut, S. 242. Zur stalinistischen Gewaltherrschaft: Baberowski: Verbrannte.

[58] Dachaus Kommandant Theodor Eicke über die Regimegegner im Lager: „[…] Hier wird ihm [dem Schutzhaftgefangenen] die Gelegenheit geboten, seine innere Einstellung gegen Volk und Vaterland zugunsten einer Volksgemeinschaft auf nationalsozialistischer Grundlage zu ändern.“[58] Zitiert nach: Kotek; Rigoulot: Jahrhundert, S. 37.

[59] Ein erheblicher Ausbau zu einer regelrechten Sklavenindustrie lässt sich für die letzte Kriegszeit ausmachen. Häftlinge wurden an etliche deutsche Firmen vermietet. Orth: System, S. 107.

[60] Die positive Bewertung der Arbeit lässt sich an etlichen Stellen des Werkes ausmachen. Solschenizyn: Ein Tag, S. 15, 57, 62, 91, 95, 100.

[61] Šalamov: Brief, S. 127. Später sagt er: „Wo ist dieses wunderbare Lager? Hätte ich zu meiner Zeit auch nur ein Jährchen darin sitzen können!“ Ebd., S. 133. Die beiden Autoren lebten sich über verschiedene inhaltliche Fragen bis zur Abneigung auseinander. Solženicyn: Varlam.

[62] Šalamov: Brief, S. 131-132.

[63] Šalamov: Prosa, S. 187.

[64] Schalamow: Erzählungen 1, S. 232.

[65] Ebd., S. 22-29.

[66] „Dafür kam er ins Krankenhaus und entging dem Schlimmsten – der Arbeit im Goldberkwerk.“ Schalamow: Erzählungen 4, S. 32. „Er wird nicht wieder in die Goldminen fahren, zu Hunger Schlägen und Tod.“ Schalamow: Erzählungen 1, S. 271. „[…] erst dann werden sie ihn nicht mehr in die Tajga, nicht ins Gold schicken. Wohin sonst – das war Andrejew ganz gleich. Bloß nicht ins Gold.“ Ebd., S. 273.

[67] Schalamow: Erzählungen 2, S. 32. So etwa in seinen Erzählungen aus Kolyma: „Er wird nicht wieder in die Goldminen fahren, zu Hunger Schlägen und Tod.“ Schalamow: Erzählungen 1, S. 271. „[…] erst dann werden sie ihn nicht mehr in die Tajga, nicht ins Gold schicken. Wohin sonst – das war Andrejew ganz gleich. Bloß nicht ins Gold.“ Ebd., S. 273. „Dafür kam er ins Krankenhaus und entging dem Schlimmsten – der Arbeit im Goldberkwerk.“ Schalamow: Erzählungen 2, S. 23.

[68] Die Judenverfolgung im Dritten Reich hatte sich seit Kriegsbeginn radikalisiert. Mit dem Sieg über Polen erfolgten Deportationen zahlloser Juden nach Osten (insbesondere nach Lodz, Riga und Minsk). Offiziell sollten sie in den völlig überfüllten Ghettos verbleiben, um nach dem Sieg über die Sowjetunion weiter in den Osten geschafft zu werden. Ob zu dieser Zeit der Völkermord in den Vernichtungslagern bereits beschlossen war, wird diskutiert. Dafür spricht die Installation entsprechender Einrichtungen, sowie massenweise Erschießungen oder erste Vergasungen von Juden in den eroberten Gebieten der Sowjetunion, dem annektierten Warthegau, Generalgouvernement Polen oder in Serbien. Dennoch hat zu dieser Zeit keine direkte Deportation in die Vernichtungslager stattgefunden. Diese wurden erst im Frühsommer 1942 erweitert. Peter Longerich geht aufgrund des Mangels an gegenteiligen Beweisen davon aus, dass die Absichten der NSDAP-Führung zu dieser Zeit noch auf die spätere Deportation abzielten. Longerich: Befehl, S. 120. Die Massenmorde, die in die Hunderttausende gingen, seien Maßnahmen zur Schaffung von Platz für die geplante vollständige Deportation der Reichsjuden gewesen. In jedem Fall sind sie deutliche Vorzeichen und rückblickend auch Teil des bevorstehenden Völkermords, da sie die zunehmende Radikalisierung der Naziführung offenbaren. Mit der Kriegserklärung an die USA setzte sich die antijüdische Politik fort und intensivierte sich. Man sprach nun öffentlich von Vernichtung der Juden als Rache für den, „von den Juden aufgezwungenen Weltkrieg“. Himmler notierte am 18. Dezember in seinen Terminkalender: „Judenfrage | als Partisanen auszurotten“. Die Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 konkretisierte die Pläne und schloss alle europäischen Juden ein. Dabei sprach man ausdrücklich von „Vernichtung durch Arbeit“ und von direkten Mordaktionen. Die Deportation der zentraleuropäischen Juden ging mit der Ermordung jener aus Osteuropa einher. Arbeitsfähige Juden wurden in Arbeitslagern untergebracht, der Rest in den völlig überfüllten und verelendeten Ghettos. Longerich: Befehl, S. 122-155. Im Juli kam das ganz Europa umfassende Deportations- und Mordprogramm in Gang. Es erweiterte und radikalisierte sich stetig. Longerich: Befehl, S. 156-192. Dem Völkermord der Nationalsozialisten, der sich vornehmlich gegen die Juden Europas richtete, fielen insgesamt schätzungsweise sechs Millionen Menschen zum Opfer. Benz: Dimension. Die von Benz errechneten Zahlen gelten allgemeinhin als anerkannt.

[69] Frankl: …trotzdem, S. 39.

[70] Ebd., S. 46.

[71] Ebd., S. 75.

[72] Die Todesraten der nationalsozialistischen Lager waren unterschiedlich und schwankten im Verlauf der Jahre. Mit der Radikalisierung des Krieges stiegen sie erheblich an; im KZ Dachau etwa von vier Prozent im Jahre 1938 auf 36 Prozent 1942; in Buchenwald von zehn Prozent (1938) auf 19 Prozent (1941). Dazu genauer: Orth: System, S. 111.

[73] Frankl: …trotzdem, S. 42f.

[74] Ebd., S. 30f.

[75] Ebd., S. 38.

[76] Ebd., S. 45.

[77] Ebd., S. 129.

[78] „Ich hatte mir längst das Wort gegeben, wenn man mich schlägt, so wird das auch das Ende meines Lebens sein. Ich werde den Chef schlagen, und man wird mich erschießen. Leider war ich ein naiver Knabe. Als ich schwächer wurde, wurden auch mein Wille, mein Verstand schwächer.“ Schalamow: Erzählungen 4, S. 38.

[79] Schalamow: Erzählungen 4, S. 44, 49.

[80] Ebd., S. 73.

[81] Ebd., S. 44.

[82] „Der erste Tod“ schildert den Mord an der beliebten Sekretärin des Grubenchefs und wird von den Häftlingen mit einer gewissen Empörung registriert: Schalamow: Erzählungen 1, S. 142-147.

[83] Schalamow: Erzählungen 4, S. 335.

[84] Schalamow: Erzählungen 2, S. 286.

[85] Schalamow: Erzählungen 4, S. 306.

[86] Ebd., S. 332.

[87] Ebd., S. 495.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783955499341
ISBN (Paperback)
9783955494346
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
GULag Konzentrationslager Arbeitslager Nationalsozialismus Stalinismus Viktor Frankl Varlam Šalamov
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Titel: Ethischer Bankrott oder kultureller Winterschlaf? Der Lagermensch bei Varlam Šalamov und Viktor Frankl
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