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„Never free, never me“ - Autoritätenkritik in der Rockmusik: Eine Analyse von Metallicas „The Unforgiven“ und Pink Floyds „The Wall“ im Vergleich mit Charles Dickens’ „David Copperfield“

©2013 Bachelorarbeit 48 Seiten

Zusammenfassung

Rockmusik und die von ihr vermittelte Ideologie stehen für Authentizität und lehnen es ab, sich Konventionen zu unterwerfen. Diese protesthafte Lebenshaltung ist oft mit jugendtypischen Entwicklungsproblemen, Identitätskrisen und dem Streben nach Individualität verbunden – Themen, die bereits im viktorianischen Bildungsroman des 19. Jahrhunderts gerne aufgegriffen wurden. So kämpft Charles Dickens’ David Copperfield darum, trotz strenger viktorianischer Moralvorstellungen als Schriftsteller eine Stimme zu bekommen und ist damit gar nicht so anders als die Protagonisten mancher Rocksongs. Denn auch in Pink Floyds Konzeptalbum The Wall und der Songtrilogie ‘The Unforgiven’ von Metallica fühlen sich die Protagonisten von gesellschaftlichen Normen und autoritären Instanzen in ihrer Identitätsfindung behindert. Welche ‘Coming-of-Age’-Probleme haben sie mit David Copperfield gemeinsam und warum macht es ihnen die vermeintliche Freiheit der Postmoderne nicht unbedingt leichter? Finden sie ihren Platz in einer von überholten Moralvorstellungen vergifteten Gesellschaft oder ist das genauso wenig möglich wie erstrebenswert?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.3 Die Auswirkung der Disziplinierungsversuche

Um den Grundgedanken der persönlichen Entwicklung und Identitätsfindung von David Copperfield weiter zu verfolgen, ist es wichtig, herauszuarbeiten, welchen Einfluss diese verschiedenen Versuche, ihn zu erziehen, ihm Disziplin beizubringen, schließlich auf ihn haben. Als die Murdstones in sein idyllisches Leben treten, reagiert David als ein Kind, das Liebe anstatt Autorität gewohnt ist, auf die gewaltsamen Methoden mit Trotz; er zieht sich zurück und wehrt sich schließlich gegen die körperliche Gewalt seines Stiefvaters, indem er ihn beißt.[1] Die Erziehungsmethode scheint demnach eher ins Gegenteil von ihrem gewünschten Effekt umgeschlagen zu sein, doch wenn man sein Verhalten in Salem House betrachtet, scheint Murdstones Erziehung doch zumindest oberflächlich einen gewissen Effekt gehabt zu haben. Denn schon dort hat David das Ursache-Wirkungs-Geflecht verstanden: auf undiszipliniertes Verhalten folgt Strafe, deshalb ist dieses Verhalten zu vermeiden. So findet er sich in dem ebenso totalitären System von Salem House schon um einiges besser zurecht, als zuvor bei den Murdstones, da er diese gewalttätige Form der Erziehung bereits kennt, wenn auch immer noch nicht versteht, genauso wenig wie der Erwachsene Erzähler sie gutheißt. Auch später scheinen diese Episoden seines Lebens, wie hart sie auch waren, für ihn absolut notwendig gewesen zu sein, um überhaupt die Kraft zur Eigeninitiative zu finden, aber auch um Miss Betseys subtile Form der Kontrolle als angenehme Erleichterung zu empfinden.

Vor allem wenn man den weiteren Verlauf der Geschichte von David als jungen Erwachsenen betrachtet, so scheint er die bürgerlichen Werte der Mittelklasse, die seine Mutter ihm durch ihre kindliche Art nicht zeigen konnte, absolut zu übernehmen. Dazu trägt natürlich seine Tante Betsey einen großen Teil bei, vor allem aber erfährt er dieses Ideal als er in Canterbury zur Schule geht und dort beim Anwalt Mr. Wickfield und dessen Tochter Agnes lebt. Er sieht, wie Agnes sich um ihren Vater und ihren Haushalt kümmert und damit dem Idealbild der viktorianischen Frau, dem „angel in the house“ entspricht, die sich still und unaufgefordert um alle häuslichen Pflichten kümmert und damit die Rolle des Mannes als Ernährer der Familie perfekt unterstützt. Dadurch, dass David in dieser Zeit seines Lebens diese Werte übernimmt, folgt auch die Unzufriedenheit in seiner ersten Ehe mit Dora Spenlow, die als schönes, aber naives Mädchen eher an seine Mutter erinnert. So zeigt sich, dass David aus heutiger Sicht chauvinistische und repressive viktorianische Werte übernommen hat: „More typical or more interesting is the revelation of Dickens’s implicit social attitudes, often remaining well below the concious level of criticism. [...] David often reveals […] Victorian limitations which the author does not see but which the modern reader most certainly does.“[2] Eines der wichtigsten Beispiele ist, dass er sich immer wieder erneut darüber beklagt, dass Dora nicht wirklich in der Lage ist, einen Haushalt zu führen und ihn damit in seiner Arbeit zu unterstützen. Außerdem sucht er genau dieses Ideal einer Frau schließlich, als er Jahre nach Doras frühem Tod die fürsorgliche, aber eher unterwürfige Agnes Wickfield heiratet.

2.4 Das Ende: Eine erfolgreiche Eingliederung in die Gesellschaft?

Das Ziel des viktorianischen Bildungsromans ist laut Jeffers das „ successful coming of age”,[3] das Erwachsenwerden, bei dem der Bildungsheld erfolgreich seinen Platz in der Gesellschaft findet: „youths become initiated grown-ups, ready to invest their talents in the love and work of the civil society they belong to“.[4] Genauso geschieht es auch bei David Copperfield, wobei er allerdings einige notwendige Umwege einschlagen muss, bevor er tatsächlich seine eigenen Interessen und die Werte, die ihm von der Gesellschaft eingetrichtert wurden, zur Kongruenz bringen kann. Dabei gibt es genau betrachtet zwei Aspekte in seinem Leben, die entsprechend ins Lot gebracht werden müssen. Erstens muss er die richtige Frau heiraten, da Ehe nach den viktorianischen Werten ein Beispiel für eine perfekte Sozialisation ist, sofern sie – was selten der Fall war – tatsächlich aus Liebe und aus freiem Willen geschlossen wird. Der zweite Aspekt ist die Wahl des richtigen Berufs, der es schafft, die Talente und Interessen des Individuums zu berücksichtigen und ihm dennoch ermöglicht, damit seine Familie zu ernähren.

Beide Aspekte beginnt David mit einer Fehlentscheidung, die ihn schließlich zur Einsicht führt. Durch seine Ehe mit Dora stellt er fest, dass Schönheit und Charme nicht genügen, um für ihn die unterstützende Funktion zu haben, die er, vor allem als er seine Karriere als Schriftsteller beginnt, braucht. Sie möchte ihn zwar bei seiner Arbeit unterstützen, doch das einzige, was sie dazu beitragen kann, ist ihm seine Füller zu halten.[5] Agnes dagegen bietet ihm im Gegensatz zu der irrationalen Dora eine Form der Liebe, die konstant und zuverlässig ist und ihm damit den sozialen Rückhalt gibt, den er für seinen Beruf braucht und den sie auch durch ihre effiziente Haushaltsführung gewährleistet – ein Frauenbild, das aus heutiger Sicht natürlich kritisch zu betrachten ist, aus viktorianischer Sicht aber durchaus dem Ideal entspricht.

In beruflicher Hinsicht entschließt sich David nach einer angefangenen Karriere als Anwalt schließlich dazu Schriftsteller zu werden, wodurch er, was im Text zwar nicht explizit erwähnt, aber dennoch deutlich wird, schließlich zu einigem Erfolg gelangt. Damit gelingt es ihm, zwar durch die beobachtende Rolle des Schriftstellers außerhalb des Systems zu stehen, aber trotzdem ein Rädchen im Triebwerk der der gerade industrialisierten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu werden: „Because it was conceptualised simultaneously as superior to the capitalist economy and as hopelessly embroiled within it, literary work was the work par excellence that denied and exemplified the alienation written into capitalist work.”[6] Dadurch schafft es David schließlich, seine sensible Seite mit den Erwartungen, die an ihn als Mann gestellt werden, zu vereinen; er ernährt mit seinem schriftstellerischen Erfolg die Familie, die er mit Agnes gründet und bekommt von dieser Familie wiederum den sozialen Rückhalt, den er für sein schriftstellerisches Schaffen braucht.

Nach den Werten, die innerhalb des Romans herrschen, erscheint das Ende als eine perfekte Integration in die Gesellschaft, außerdem ist die Suche des Individuums nach seiner Identität abgeschlossen, seine Identität gefestigt. Vielleicht mag auch der viktorianische Leser das Ende demnach als äußerst positiv bewertet haben, im Kontext einer anderen, moderneren Bewertung von Identitätsbildung, wie sie später in den Beispieltexten aus der Rockmusik deutlich werden soll, ist auch die Bewertung des Endes von David Copperfield nicht mehr so einfach. Denn aus deren Sicht sind die Werte, die Dickens hier vermittelt, nicht selbstverständlich als positiv zu erachten: „Dickens expected his reader to admire hard work, domestic efficiency, a high degree of rationality, and competence, and did not usually take the trouble to argue, objectivity, or particularize such merits.”[7] Demnach handelt es sich innerhalb des Wertesystems des Romans als auch des Wertesystems des impliziten Autors und Lesers um ein durchaus positives Ende, dennoch bleibt weiterhin die Frage, wie es ein Leser mit anderem Wertesystem auffassen würde, in dem beispielsweise Individualität und Freiheit einen höheren Stellenwert haben. Außerdem sollten ebenso die Umstände, unter denen das Werk entstanden ist, beachtet werden und es stellt sich die Frage, ob es sich, selbst wenn die Werke von Dickens gerne dem Realismus zugeordnet werden, vielleicht um ein alles andere als realistische Bild der damaligen Gesellschaft handelt, sondern um eine Idealisierung. Dazu soll nun erst einmal gezeigt werden, wie sich der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft in den Beispielen von Metallica und Pink Floyd äußert und die Weltentwürfe und Wertesysteme anschließend verglichen werden.

3. Metallica: „The Unforgiven“ – das Scheitern des Individuums

„The Unforgiven“ bildet einen pessimistischen Gegenentwurf zu dem zunächst positiv erscheinenden Ende von David Copperfield, was sicher unter anderem auf den generellen Wertewandel im 20. Jahrhunderts, aber auch die speziellen Werte der Rockmusik zurückzuführen ist. Denn während es David Copperfield trotz strenger gesellschaftlicher Ordnung am Ende schafft, seine eigenen Bedürfnisse und die Erwartungen in Einklang zu bringen, er selbst und trotzdem ein integrierter Teil der Gesellschaft zu sein, so scheitert der Protagonist in „The Unforgiven“ an dem Versuch, wobei in Frage zu stellen ist, ob er es jemals versucht hat. Denn alle drei Teile der Trilogie thematisieren die Unmöglichkeit, als Individuum in der Gesellschaft, die hier entworfen wird, zu existieren. Vor allem im ersten Teil wird klar, dass es eigentlich kaum eine andere Möglichkeit gibt, als ein gesichtsloser Teil der Masse zu werden.

„The Unforgiven“, der erste und wahrscheinlich bekannteste Teil der Trilogie erschien 1991 auf dem fünften Studioalbum von Metallica, und erzählt eigentlich eine in sich geschlossene Geschichte, die als verzerrte Dekonstruktion eines Bildungsromans gelesen werden kann. Obwohl sie mit dem Tod (oder kurz vor dem Tod) des Protagonisten endet und damit an sich abgeschlossen ist, folgten zwei Nachfolger mit „The Unforgiven II“, das 1997 in dem Album Reload erschien und 2008 „The Unforgiven III“ in Death Magnetic. Diese beiden Songs knüpfen inhaltlich zwar an ihren Vorgänger an, können aber schon allein wegen des Endes im ersten Teil keinesfalls in chronologische Reihenfolge gebracht werden, sondern betonen eher einzelne Aspekte, die im ersten Teil noch nicht ausgeführt wurden. Wie in diesen drei Liedtexten die Sozialisationsversuche und die Entwicklung des namenlos bleibenden Protagonisten dargestellt werden, inwiefern eine Repression stattfindet und wie sich diese auf ihn auswirkt, wird im Folgenden in textnaher Einzelinterpretation analysiert.

3.1 Teil I: Repression in jeder Hinsicht

Der erste Teil der Trilogie, von Peter Kemper als „Ein dunkles Meisterwerk“[8] bezeichnet, zeichnet sich durch einen eingängigen, von bedeutungsschweren Metaphern durchzogenen Text aus, in dem in überraschender Kürze das gesamte traurige Leben eines unterdrücken und gequälten Mannes beschrieben wird. Kemper geht dabei vor allem auf das ebenso berühmte Musikvideo ein:

Das schwarz-weiße Video zu ‚The Unforgiven’, einem der Höhepunkte der schwarzen Scheibe, wird geprägt von düsterer, kafkaesker Stimmung und Zerrissenheit: der im Text nur angedeutete Zusammenhang eines gequälten und unterdrückten Menschen mit der beeindruckenden Rückbindung des am Ende alten Mannes auf den Sänger („The old man here is me“) wird filmisch umgesetzt […][9]

Doch bereits aus dem Text wird die Situation des Protagonisten auf dramatische Weise deutlich; sobald er geboren wird („new blood joins this earth“[10] ) wird er sofort in jeglicher Hinsicht unterdrückt und ist gezwungen, sich den Regeln der unbarmherzigen Welt, in der er lebt, anzupassen, wie durch die Textzeilen „And quickly he’s subdued/ Through constant pained disgrace / The young boy learns their rules“ deutlich wird. Wie totalitär diese Welt ist und wie sehr sie ihn in seiner Freiheit einschränkt, wird noch in der ersten Strophe klar: „Deprived of all his thoughts“ wird er von der Gesellschaft bis in seine Gedanken kontrolliert, wie auch Philip Lindholm in seiner Interpretation von der Philosophie in Metallica-Texten generell behauptet: „The world wants to control your life by making you objectively detached from who you are and who you meant to become.“[11] Auch der Protagonist in „The Unforgiven“ erfährt niemals, was aus ihm hätte werden können, wenn er seine Persönlichkeit hätte frei entfalten können. Im Refrain wechselt dabei die Perspektive von der dritten Person in die Ich-Perspektive, wodurch Musik das, was in der entworfenen Welt eigentlich nicht möglich ist, möglich werden lässt: sie lässt das Individuum zu Wort kommen. „What I've felt / What I've known / Never shined through in what I've shown / Never free / Never me / So I dub thee unforgiven” – so spricht der Unterdrückte seine Unterdrücker zumindest im Geiste direkt an. „Unforgiven“ kann hier als „unverziehen“ oder „diejenigen, denen nie verziehen wurde“ übersetzt werden. Allerdings bleiben die Unterdrücker in diesem Text namenlos und werden nicht näher definiert, was auch auf die Kürze des Textes zurückzuführen ist. „The Unforgiven“ ist demzufolge als eine Abstraktion jeder vergleichbaren Situation zu verstehen, in der ein Individuum nicht die Möglichkeit zur freien Entfaltung bekommt, die es benötigt – ebenfalls wiederzufinden in den dunklen Kindheitsepisoden des David Copperfield. Eine weitere Parallele zu Dickens’ Roman ist, dass der Protagonist auch hier scheinbar misshandelt wird („This whipping boy“), auch wenn hier nicht weiter ausgeführt wird, worin genau diese Misshandlung besteht. Schließlich wird durch die Zeile „That old man here is me“ der Fall wiederum spezifiziert oder vielleicht auch einfach angedeutet, dass Sänger und Songwriter James Hetfield sich mit seinem lyrischen Ich zumindest ein Stück weit identifiziert und auch jeden Zuhörer, der sich angesprochen fühlt, zu einer Identifikation einlädt.

Auffällig in „The Unforgiven“ ist die äußerst passive Haltung des Protagonisten, obwohl er sich selbst offensichtlich nicht wirklich als passiv wahrnimmt. Er empfindet bereits das Leben an sich als immerwährenden Kampf, wie durch „The young man struggles on“ deutlich wird, außerdem scheint er den Kampf bereits als verloren oder aussichtslos anzusehen: „He's battled constantly / This fight he cannot win.“ Entsprechend reichen seine Kräfte nicht aus, um sich seinen Unterdrückern wirklich zu widersetzen. Widerstand geschieht bei ihm wenn überhaupt in Gedanken; er schwört sich, dass sie zumindest seinen Willen nicht brechen werden: „he's known / A vow unto his own / That never from this day / His will they'll take away.“ Diesen eigenen Willen auch nur im Kopf aufrecht zu erhalten, scheint ihn alle seine Kräfte zu kosten, dennoch führt es zu keiner wirklichen Lösung. Immerzu ist er nach außen hin damit beschäftigt, sich - warum auch immer - anzupassen. Vielleicht benötigt er diese Anpassung nur, um überhaupt zu überleben und paradoxerweise zumindest in seinem Willen frei zu bleiben, denn in der zweiten Strophe folgt nach „He tries to please them all / This bitter man he is“ schon bald „The tired man they see no longer cares.“ Am Ende des Textes steht er kurz vor seinem Tod, ohne der Welt jemals seine wahre Persönlichkeit offenbart zu haben: „The old man then prepares/ To die regretfully.“ Er war immer nur Teil einer gesichtslosen Masse, ein unbedeutendes Rädchen in einer Maschine, die auch ohne ihn in ihrem monotonen Rhythmus weiterläuft.

So wird einzig und allein der Werdegang des Individuums beschrieben, dem es in keiner Weise gelingt, in der Gesellschaft, in der es lebt, einen Platz zu finden und seine Identität zu bilden und zu festigen. Da aber die Gesellschaft im Text nicht weiter definiert wird, bleibt viel Interpretationsspielraum – sollte es sich zum Beispiel um eine totalitäre Gewaltherrschaft wie in George Orwells 1984 handeln, dann wäre sein Verhalten um einiges anders zu bewerten, als wenn es sich um ein Abbild der tatsächlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts handelt. In jedem Fall ähnelt die Reaktion des Protagonisten der des jungen, von den Murdstones unterdrückten David Copperfield – es erfolgt ein gewisser Rückzug des Individuums in sich selbst und die eigene Gedankenwelt, wie hier deutlich wird, indem der Protagonist nur in seinem Kopf seinen freien Willen und einen gewissen Widerstand beibehält. In dem bereits oben erwähnten Musikvideo wird diese Isolation zusätzlich deutlich, indem ein sich vom Kind zum Erwachsenen und schließlich zum alten Mann entwickelnder Mensch in einer Höhle dargestellt wird, aus der er es nie wirklich schafft auszubrechen. Ein Versuch der Öffnung geschieht erst Jahre später durch „The Unforgiven II.“

3.2 „The Unforgiven II“: Der Versuch einer Öffnung

Der zweite Teil der Trilogie spezifiziert einen bestimmten Aspekt des Protagonisten aus „The Unforgiven“, der dort noch nicht ausgeführt wurde. Der Text des zweiten Teils beschreibt den Versuch des Individuums, sich ein Stück weit aus seiner Isolation zu bewegen beziehungsweise jemand anderen in seine Isolation hineinzulassen.

Der Protagonist hat eine Frau gefunden, der vermutlich ähnliches widerfahren ist wie ihm selbst und mit der er das Leid teilt: „Lay beside me and tell me what they’ve done / And speak the words I wanna hear to make my demons run.“[12] Hier wird, im Gegensatz zum ersten Teil, seine innere Isolation, sein Abschotten von der Welt, sehr viel expliziter erwähnt als im ersten Teil und durch die Metapher der geschlossenen Tür ausgedrückt; er überlegt, ob die Frau es Wert ist, seine Tür zu öffnen und ihr seine wahre Persönlichkeit zu offenbaren: „The door is locked now, but it’s open if you’re true / If you can understand the me then I can understand the you.“ Der Protagonist schöpft vorsichtig Hoffnung, dass die beiden in ihrer Beziehung zueinander gegenseitig das Leid des jeweils anderen lindern können, indem sie sich aufeinander einlassen. Er sieht die Beziehung sogar in einem gewissen Sinne als eine Möglichkeit zum Neuanfang, wie sich in dem an den ersten Teil angelehnten Refrain zeigt. Mit „Turn the pages, turn the stone“ deutet er an, dass er bereit ist, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und dass er in seiner Einsamkeit und Schwäche einen Gleichgesinnten braucht: „Sick and tired I stand alone / Could you be there / ’Cause I’m the one who waits for you.“

Dennoch ist der Text trotz des Hoffnungsschimmers von Anfang an von Unsicherheit durchzogen; schon in der zweiten Strophe heißt es „The door cracks open but there’s no sun shining through“, was eigentlich schon andeutet, dass der Öffnungsversuch zum Scheitern verurteilt ist, da er nicht die gewünschte Durchflutung von Sonnenlicht durch die Dunkelheit seines Lebens bewirkt, was nur zu weiteren inneren Verletzungen führt, wie durch sein „black heart scarring darker still“ deutlich wird. Im Refrain spricht er die Frau direkt an und schildert ihr seine Befürchtungen: „[…] that door, should I open it for you? […] Or are you unforgiven too?“ Er äußert damit seine Angst, dass sie doch nur einer der Unterdrücker ist, die er im ersten Teil als „unforgiven“ bezeichnet hat.

Die Frau scheint ähnliche innere Verletzungen und Unsicherheiten mitzubringen, da er sie teilweise erst einmal beschwichtigen muss: „Come lay beside me / This won’t hurt, I swear.“ Auffällig ist hier auch die Perspektive: den Großteil des Textes steht er in direkter Interaktion mit der Frau und spricht sie permanent direkt mit „you“ an, während das soziale Umfeld im ersten Teil bis auf die wenigen Zeilen im Refrain eher unpersönlich mit „they“ beschrieben wird. Dadurch wird die vorübergehende Veränderung des Protagonisten, seine Bereitschaft, sich auf einen anderen Menschen einzulassen, zusätzlich verdeutlicht.

Doch seine Unsicherheiten und Befürchtungen bestätigen sich schließlich: der Versuch der Öffnung bleibt erfolglos, sein Gegenüber scheint ihn nicht zu verstehen: „The door is closed, so are your eyes.“ Sollte das Sonnenlicht von „But now I see the sun“ positiv konnotiert sein, so steht es höchstens für vorübergehende Befriedigung. Das darauf folgende „Yes, now I see it“ könnte aber auch als „Jetzt verstehe ich es“ übersetzt werden, schließlich muss Sonne nicht unbedingt nur für Positives stehen, sondern kann auch schlichtweg Selbstreflexion bedeuten.[13] Der Protagonist hat an dieser Stelle begriffen, dass auch diese Beziehung ihm nicht aus seiner Isolation geholfen hat und dass die Frau offensichtlich doch keine Gleichgesinnte war, nachdem er sich zuvor noch selbst die Schuld für ihr plötzliches Verschließen ihm gegenüber gegeben hat („Lay beside me, tell me, what I’ve done“).

Die wahrscheinlich prägnanteste Metapher für das, was die Beziehung in ihm bewirkt hat, erscheint ganz am Ende und bezieht sich wiederum auf die Tür als Öffnung zu seinem wahren Ich. „I’ll take this key and I’ll bury it in you / Because you’re unforgiven too.” Indem er den Schlüssel zu der verschlossenen Tür, ja zu seinem Inneren, nach einer gescheiterten Beziehung „in“ der Frau vergräbt und damit für sich und andere unzugänglich macht, ist seine Isolation zur Außenwelt damit vollständig, der Grund dafür deutlich. Dabei wird die häufige Konnotation des Schlüssels als „Werkzeug, das Herz der Geliebten zu öffnen und zu erobern“[14] auf eine negative Bedeutungsebene verschoben. Die Frau, die zunächst Hoffnung suggerierte, ihn schließlich aber wieder enttäuscht hat, bringt das Fass zum Überlaufen und lässt den Protagonisten vollständig resignieren, sie bringt ihn zu dem Glauben, dass jedes Öffnen anderen Menschen gegenüber zwecklos ist. Damit kommt dieser Teil der „Unforgiven“-Trilogie schließlich auch dem später zu behandelnden Album The Wall von Pink Floyd am Nächsten: Die gescheiterte Beziehung ist hier das, was bei Pink Floyd der letzte „brick in the wall“ wäre, der die Mauer vervollständigt; die Metapher der geschlossen Tür ähnelt der der Mauer schließlich stark. Doch so wenig wie The Wall mit dem Errichten der Mauer endet, endet die „Unforgiven“-Trilogie nach dem zweiten Teil. Offensichtlich war das Thema auch an dieser Stelle noch nicht vollständig abgehandelt, denn mehr als zehn Jahre später erscheint ein dritter Teil.

3.3 „The Unforgiven III“: Selbsterkenntnis

Da „The Unforgiven III“ erst 2008 und damit mit großem zeitlichen Abstand zu seinen beiden Vorgängern erschienen ist, zeigt es eine gewisse Distanz zu den beiden anderen Stücken. Obwohl es immer noch daran anknüpft, ist es inhaltlich bei weitem nicht so eindeutig zu erschließen.

Betrachtet man das Lied als Fortsetzung von „The Unforgiven II“, so erklärt es vor allem das Motiv des Sonnenlichts, dessen Bedeutung im zweiten Teil nicht vollständig aufgelöst werden konnte, denn der dritte Teil der Trilogie beginnt mit den Zeilen: „How could he know this new dawn’s light / Would change his life forever?“[15] Im zweiten Teil wird das Element „Licht“ vor allem dann angesprochen, als der Protagonist endgültig einsieht, dass er sich niemandem gegenüber mehr öffnen wird, aber paradoxerweise die Worte „Now I can see the sun“ auftauchen, die in einem anderen Zusammenhang wohl etwas Positives suggerieren würden. Das Licht ist hier also durchaus ein Symbol der Erkenntnis und der Wahrheit, aber nicht in dem positiv konnotierten, häufig übernatürlich-göttlichem Sinne, den es sonst hat.[16] Vielmehr stehen hier Licht und Sonne für die düstere Einsicht, dass Isolation der beste Schutz vor Verletzungen durch die Außenwelt bedeutet – daran anknüpfend bezeichnet das „new dawn’s light“ in „The Unforgiven III“ eine Art Neuanfang des Protagonisten innerhalb seiner Isolation und damit sein Dasein abgeschottet von den vermeintlich negativen Einflüssen der Gesellschaft. Doch immer noch hat „Licht“ eine ambivalente Funktion, denn noch in der ersten Strophe heißt es: „Set sail to see, but pulled off course / By the light of golden treasure.“ In diesem Zusammenhang schien Licht etwas durchaus Positives zu versprechen: der hier erwähnte „golden treasure“ könnte sich natürlich auf die Frau aus dem zweiten Teil beziehen, die zunächst als verständnisvolle Gleichgesinnte Erlösung versprach, ihn aber dann doch noch mehr vom richtigen Weg abgelenkt hat. Andererseits kann der „golden treasure“ auch ein großes Ziel inmitten seiner Isolation sein, etwa durch die Abschottung des eigenen Ichs vor allen negativen Einflüssen sicher zu sein.

Allerdings wird auch hier schnell klar, dass das Problem dadurch keineswegs gelöst wurde; wenn man weiterhin die Annahme verfolgt, dass das Lied das Leben des Protagonisten innerhalb der Isolation beschreibt, dann scheint ihm die Konfrontation mit sich selbst genauso viel Schwierigkeiten zu bereiten wie zuvor die Erwartungen der Gesellschaft, die er nicht erfüllen konnte. Durch „Been afraid, always afraid / Of the things he’s feeling“ zeigt sich, dass ihm das Erkennen und Reflektieren der eigenen Gefühle eine Qual ist und dass er demnach sich selbst genauso unterdrückt, wie die als „unforgiven“ bezeichneten anderen ihn unterdrückt haben, dass er nicht einmal vor sich selbst sein wahres Ich wirklich offenbart. Auch in der Strophe, die auf den ersten Refrain folgt, wird klar, dass die Isolation keineswegs eine Lösung des Konflikts darstellt. Der Protagonist befindet sich „inside a fog / It’s thick and suffocating.” Innen und außen sind gleichermaßen unerträglich: „outside it’s hell / Inside intoxicating.” „He’s run aground“ bezieht sich damit nicht nur auf die Metapher des Schiffs, mit dem er verloren durchs Leben segelt, sondern auch darauf, dass er nun auf dem Grund seines eigenes Ichs angekommen ist, „slipping fast, down with the ship“ zeigt, wie er tief in sein eigenes Unterbewusstsein rutscht und dazu gezwungen ist, sich mit der dunkelsten Seite seiner selbst zu beschäftigen, zumal das Meer häufig die Konnotation mit dem Unbewussten, dem Verborgenen der menschlichen Seele hat.[17]

Vor allem im Refrain erscheinen die einsichtigsten und reifsten Verse der ganzen Trilogie. Innerhalb seiner Isolation ist der Protagonist so unmittelbar mit sich selbst konfrontiert, dass er endlich erkennt, was seinen Konflikt wirklich ausmacht. Mit „How can I be lost? / If I’ve got nowhere to go?“ wird sein eigentliches Problem in wenigen Worten auf den Punkt gebracht und ein erneuter Bezug zum Bildungsroman kann hergestellt werden. Denn vor allem im viktorianischen Bildungsroman, wie anhand von David Copperfield deutlich wurde, ist eindeutig, wo der Weg des Protagonisten hinführen soll, nämlich in eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft, die durch bürgerliche Werte der Mittelklasse klar definiert ist. In der postmodernen, von Pluralismus und Heterogenität geprägten Welt von „The Unforgiven“ ist dieses Ziel nicht mehr definiert, deshalb kann man sich darin auch nicht verlieren – oder anders gesagt ist jedes Individuum nur ein einsamer Segler im kalten Meer der Postmoderne auf der aussichtslosen Suche nach dem Gold seiner eigenen Identität, die einem nun nicht mehr von vorgegebenen Werten gesichert wird: „Searched the seas of gold / How come it’s got so cold?“ Doch durch diese Einsicht verschwinden auch die Unverziehenen, „The Unforgiven“, denen nun keine Schuld mehr gegeben werden kann: „Now a castaway / Blame all gone away!“ Mit existenzialistischer Einsicht wird klar, dass jedes Individuum ganz allein für sein Schicksal verantwortlich ist: „And how can I blame you / When it’s me I can’t forgive?“ So zeigt sich der Protagonist im dritten Teil als sehr viel reifer als in den beiden ersten Teilen, ihm gelingt es, seine eigene Situation mit Distanz zu betrachten und ihm wird klar, dass letztendlich er selbst daran Schuld ist, dass er nie in der Lage war, sein wahres Ich zu offenbaren – mitunter deswegen, weil vielleicht nicht einmal er selbst es kennt. Er selbst ist demnach „unforgiven“ und auch er wäre auch – wenn überhaupt - der einzige, der sich selbst vergeben könnte: „Forgive me / Forgive me not / forgive me […]“. Diese Gegenüberstellung wird am Ende des Liedes viermal wiederholt und klingt so wie ein innerer Kampf, den der Protagonist allerdings (gegen sich selbst) mit „Why can’t I forgive me?“ verliert. So findet die Trilogie zwar kein positives Ende, doch zumindest die Erkenntnis, worin das Problem liegt. Während David Copperfield sich nur in Interaktion der Gesellschaft entwickeln kann und damit nicht nur von ihm, sondern auch vom sozialen Umfeld abhängt, ob ihm seine Sozialisation gelingt, so gibt es im Gesellschaftsentwurf der „Unforgiven“-Trilogie keinen Platz, den der Protagonist einzunehmen hat. Er allein ist für sein Schicksal und die Bildung seiner Identität und damit auch für sein Scheitern verantwortlich – „The Unforgiven III“ klingt wie ein Appell an den Mann aus dem ersten Teil, der Aufruf dazu, sich nicht anzupassen, nicht allen gefallen zu wollen, von Anfang an nach den eigenen Vorstellungen und nicht den Vorstellungen der anderen zu leben.

[...]


[1] Vgl. Dickens, S. 58.

[2] Hardy, S. 10.

[3] Jeffers, S: 49.

[4] Jeffers, S. 49.

[5] Vgl. Dickens, S. 530.

[6] Mary Poovey,„The Man-of-Letters Hero: David Copperfield and the Professional Writer“ in: John Peck (Hg.), David Copperfield and Hard Times, New York: Palgrave Macmillan, 1995, S. 94.

[7] Hardy, S. 12.

[8] Peter Kemper (Hg.), Rock Klassiker Bd. 2, Stuttgart: Reclam, 2003, S. 891.

[9] Kemper, S. 892.

[10] Metallica, „The Unforgiven“; alle in 3.1 verwendeten und nicht anderweitig gekennzeichneten Zitate entstammen diesem Text.

[11] Philip Lindholm, „The Struggle Within: Hetfield, Kierkegaard and the Pursuit of Authenticity” in: William Irwin (Hg.), Metallica and Philosophy. A Crash Course in Brain Surgery, Oxford: Blackwell, 2009, S. 65.

[12] Metallica, „The Unforgiven II“; alle in 3.2 verwendeten und nicht anderweitig gekennzeichneten Zitate entstammen diesen Text.

[13] Vgl. Günter Butzer u. Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, 2. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2012, S. 406.

[14] Butzer/Jacob, S. 378.

[15] Metallica, „The Unforgiven III“; alle in 3.3 verwendeten und nicht anderweitig gekennzeichneten Zitate entstammen diesem Text.

[16] Butzer/Jacob, S. 244.

[17] Vgl. Butzer/Jacob, S. 268.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783958206397
ISBN (Paperback)
9783958201392
Dateigröße
885 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Augsburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Rockmusik Songtext Populärkultur Autoritätenkritik Entwicklungsroman

Autor

Senta Gekeler, B.A., geboren 1989, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg und schloss 2013 ihren Bachelor of Arts ab. Ihr besonderes Interesse gilt der Verbindung zwischen kanonisierter Literatur und der heutigen Populärkultur. Deshalb liegen ihre Forschungsschwerpunkte auf der literaturwissenschaftlichen Analyse von zeitgenössischen kulturellen Phänomenen wie Kinofilmen und Rockmusik.
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